Maestro Muti macht Mozart : Ein Wüstling in Turin
Sein letzter „Don Giovanni“ liegt schon 23 Jahre zurück. Denn Riccardo Muti dirigiert nur noch selten Oper. Die Risiken, die mit einer Inszenierung einhergehen, sind ihm zu groß. Eingriffe in Libretti, wie sie im internationalen Opernbetrieb zunehmend radikaler werden, weist der 81-Jährige seit jeher konsequent zurück. Eher dirigiert er Opern konzertant.
Ein Dirigent trägt nicht nur Verantwortung für die musikalische Einstudierung, sagt Muti, er muss dafür sorgen, dass ein einheitliches Ganzes entsteht. Diesem Anspruch konnte er vor allem mit dem genialen Theatermann Giorgio Strehler in den 1980er Jahren in idealer Weise Rechnung tragen. Nachdem sich die Reihen unter den alten Weggefährten lichteten, sah es schon fast so aus, als würde Muti als letzter Dinosaurier einer vergangenen Epoche übrig bleiben.
Chiara Muti hat ihr Handwerk bei Giorgio Strehler gelernt
Aber dann fand sich der Joker in den Reihen der eigenen Familie. Tochter Chiara Muti kommt aus demselben Stall. Sie ließ sich an Strehlers Piccolo Teatro in Mailand zunächst zur Schauspielerin ausbilden, erlernte nebenbei von ihm auch ihr Handwerk als Regisseurin. Die Zusammenarbeit von Vater und Tochter ließ sich schon 2018 mit einer wunderbar leichtfüßigen „Cosi fan tutte“ in Neapel sehr vielversprechend an.
Ihr „Don Giovanni“ in Turin wirkt nun, überwiegend in Schwarzweiß gehalten, deutlich dunkler, analog der Handlung. Alessandro Cameras Einheitsbühne dominiert die schon von Beginn an eingestürzte Fassade eines herrschaftlichen Hauses. Deren Fenster nutzt Chiara Muti raffiniert für Überraschungsmomente, in denen Figuren unvermittelt auftreten oder abtauchen. Und wenn es mystisch wird, steigt Rauch aus den Luken auf.
Donna Annas Vater verschwindet im Nebel, nachdem Don Giovanni seinen Degen gegen ihn gezogen hat. Enen Leichnam hinterlässt der Komtur nicht, von Anfang an ist er schon der steinerne Todesbote. Der Verletzte nach dem Gefecht ist vielmehr Don Giovanni selbst: Damit spiegelt sich das Ende der Oper im Anfang.
Zur Registerarie strömen die alten Liebschaften herein
Ohne die Frauen, die zu seiner Beute werden und sich vergeblich mühen, ihren Demütigungen zu entfliehen, würde Don Giovanni gar nicht existieren, sagt Chiara Muti. Und entsprechend hat sie das Stück inszeniert: Donna Anna, Elvira und Zerlina werden erst vor den Augen des Publikums zu ihren Figuren, als sie in ihre Kleider steigen, die über ihnen an Stangen herabschweben. Und am Ende fallen sie, wieder in ihren Unterkleidern, in sich zusammen wie Marionetten mit gekappten Fäden. Nach Giovannis Tod haben sie ihre Rollen verloren, erscheinen nur noch als Relikte der Gestalten, die sie einmal waren, ohne die Chance, sich neu zu erfinden.
Einfallsreich und mit wenigen Mitteln arrangiert die Regisseurin schlichte, unspektakuläre Szenen von großer Lebendigkeit. Die schönste Idee ist ihr zu Leporellos Registerarie gekommen. Da strömen von allen Seiten Schimären einstiger Liebschaften des Begehrten auf Elvira zu: die Kammerzofen und Baronessen, vornehmen und zierlichen Gestalten, junge Mädchen und mittendrin eine Alte an einem Stock.
Aber auch die Hochzeitsszene von Zerlina und Masetto erhält ihren Charme, wenn sich die beiden in einem bäuerlichen Nest aus Zweigen unter dem Laken lieben und herzen. Riccardo Muti gibt der Musik von den Eingangsakkorden der Ouvertüre an mit großer Kraft die gebotene Dramatik, führt ansonsten aber mit der ruhigen Hand des Altersweisen durch die Partitur.
Dank der weitgehend moderaten Tempi – ausgenommen die enervierende Champagnerarie – kann sich jedes Motiv filigran entfalten, eine zärtliche Arie wie die der Zerlina „Batti, batti, o bel Masetto“, umspielt von einem virtuosen zärtlichen Cellosolo, sich als intime Kammermusik empfehlen. Abgesehen davon, dass Francesca Di Sauro auf staunenswerte Weise ihrer Stimme als Mezzosopran die denkbar schönsten, hellen Spitzentöne entlockt.
Luca Micheletti, groß bei Stimme und überzeugend als attraktiver Draufgänger, ist eine ideale Wahl für die Titelpartie. Auch die übrigen Partien sind, wenn nicht herausragend, so doch respektabel besetzt. Jacquelyn Wagner gibt koloraturensicher und im Laufe des Abends zunehmend schlanker in der Stimmführung, eine reiflich hysterische, ihren Don Ottavio grob behandelnde Donna Anna. Mariangela Sicilia überzeugt mit ihrem agilen Sopran als eine verzweifelte, oft in Tränen aufgelöste Elvira. Alessandro Luongos Leporello besticht als brillanter Komiker.
Die magischsten Momente aber stellen sich dann ein, wenn die Musik fast unhörbar leise wird, so wie im Dacapo von Don Ottavios erster Arie „Dalla sua pace“, mit der Muti wie nebenbei für die von ihm bevorzugte Wiener Fassung gegenüber der kürzeren Prager wirbt, die diese Arie nicht enthält. Da wächst auch der sonst etwas enge Tenor Giovanni Sala, vom atmosphärischen Knistern im Orchester spürbar angefacht, mit den denkbar zärtlichsten Tönen über sich hinaus.
Unweigerlich stellt sich damit eine Ahnung davon ein, was Riccardo Muti meint, wenn er sagt, zwischen einer Note und einer anderen liege bei Mozart – auch wenn sie eng miteinander verbunden sind – eine Unendlichkeit. Sein neuer „Don Giovanni“ ist trotz kleiner Abstriche wie erwartet eine Wucht.
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