Küsse, Kämpfe, Kräche: Die Filme der Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale
Darauf muss man erstmal kommen. Ein Musical über Polizeigewalt und Rassismus in einer Favela. Einer Favela, die nicht in Rio de Janeiro, sondern an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf entstanden ist, wie Jenni Zylka, die neue Chefin der Perspektive Deutsches Kino zu berichten weiß.
Dort wurde der halbstündige Knaller „Ash Wednesday“ von Bárbara Santos und João Pedro Prado realisiert. Das hinreißende Minimusical stellt mit seiner Kombi aus brasilianischen Rhythmen, kräftigen Farben und wütenden Botschaften die einzige formale Überraschung der Perspektive.
Sonst versammelt das erste Programm der Filmjournalistin Jenni Zylka sieben lange und zwei weitere mittellange Filme. Allesamt Werke, die schwer an ihren schmerzhaften Themen tragen. Dass die Zeiten hart und der Zustand der Welt ernst ist, schlägt auch bei den Absolvent:innen der Filmhochschulen durch, die die Auswahl der Perspektive bestimmen.
Dass die Wucht von Fiktionen nicht immer an die der Realität heranreicht, beweisen drei starke Dokumentarfilme, von denen der Eröffnungsfilm „Sieben Winter in Teheran“ und das Hambacher-Forst-Drama „Vergiss Meyn nicht“ besonders eindrücklich ausfallen. Steffi Niederzoll zeichnet in ersterem die Tragödie einer mutigen iranischen Studentin und ihrer um das Leben der Tochter kämpfenden Mutter nach. Reyhaneh Jabbari ist 19, als sie sich einer Vergewaltigung erwehrt. Sieben Jahre später lässt das Mullah-Regime Jabbari, die in der Haft zu einer Symbolfigur für Frauenrechte wurde, hängen.
Sein Leben für die eigenen Überzeugungen in die Waagschale werfen. Das machen auch die Aktivist:innen, die den Hambacher Forst besetzt halten, um ihn vor dem Braunkohletagebau des Energiekonzerns RWE zu schützen. Die spannende, bewegende Dokumentation „Vergiss Meyn nicht“ lässt sie zu Wort kommen. Und setzt vor allem dem Kölner Filmstudenten Steffen Meyn ein Denkmal, der während einer Räumungsaktion der Polizei im September 2018 aus 20 Metern Höhe in den Tod stürzt. Und zwar während er die Polizeiaktion filmt. Die Kamera – und damit Steffen Meyns Subjektive – übersteht den Sturz, läuft am Waldboden weiter und wird von der Polizei in eine Plastiktüte gepackt, ein ziemlich verstörender Filmeinstieg.
Frische, nachdenkliche Reflektionen
Das Regietrio Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff hat die Trauer um den gemeinsamen Freund in einen bezwingenden Dokumentarfilm über die widersprüchlichen Beweggründe und Widerstandsformen der Besetzer:innen verwandelt. „Vergiss Meyn nicht“ lebt von deren frischen, nachdenklichen Selbstreflektionen heute, aber vor allem vom kurios anzuschauenden 360-Grad-Material, das Meyn gedreht hat.
Der nerdige Einzelgänger freundet sich in seinen zwei Jahren im „Hambi“ mit Leuten an, besucht Baumhäuser und klettert auf Gipfelpfaden umher, so dass ein plastischer Eindruck der handfesten Aktion entsteht, der keineswegs unkritisch, aber solidarisch ausfällt. Dass hier letztlich auch der Filmemacher sein Leben einsetzt, verleiht „Vergiss Meyn nicht“ eine tragische Wucht.
Die lässt sich auch bei den fiktiven Protagonistinnen in „Elaha“ und „Ararat“ finden, zweier Coming-of-Age-Dramen, die traditionell zur Kernkompetenz der Perspektive gehören. Regisseurin Milena Aboyan, die als jesidische Kurdin in Armenien geboren wurde, erzählt in „Elaha“ von einer gleichnamigen jungen Frau, deren Heirat bevorsteht. Das setzt Elaha, die von der sittenstrengen Mutter auf Schritt und Tritt kontrolliert wird, heftig unter Druck, weil sie keine Jungfrau mehr ist. Um die Familienehre nicht zu gefährden, will sie ihr Jungfernhäutchen rekonstruieren lassen, doch es mangelt am Geld für die OP. Nach und nach fragt sich die von Bayan Layla packend gespielte Elaha auch, wofür diese „Ehre“ eigentlich steht.
Das Ringen um Selbstbestimmung – auch sexueller Natur – fällt bei der Heldin von Engin Kundağs Drama „Ararat“ noch rabiater aus. Die Studentin Zeynep aus Berlin, die ihre Eltern in der Türkei besucht, wo sie unterhalb des Ararats einen Marmorsteinbruch betreiben, platzt nur so vor Aggressivität, auch wenn sie sexuell Hand an sich selber und andere legt. In diesem düsteren Kammerspiel vor karger Gebirgslandschaft weiß man kaum, was strenger ausfällt: Das Verhalten des autoritären Vaters, der Frau und Tochter klein zu halten sucht, oder die Szenen, in denen die Kamera ewig an erstarrten Mienen klebt.
Zum Glück geht die DFFB-Produktion „Geranien“ von Tanja Egen sanfter mit der Eltern-Tochter-Konstellation um. Schauspielerin Nina kehrt zur Beerdigung ihrer Oma ins Vorstadtelternhaus im Ruhrgebiet zurück. Sommergeräusche wie Rasensprenger und -mäher vereinen sich mit dem Stakkato von Mutters Kirsch-Entsteiner zu einer Soundkulisse, die ebenso viel über die Entfremdung von Mutter und Tochter erzählt, wie die ständig in Missverständnisse kippenden Dialoge. „Geranien“ ist gut beobachtet, bis hin zur Beerdigungskaffeetafel im Vereinsheim stimmig erzählt, und kann sich sogar Hoffnung erlauben. Respekt zwischen den Generationen ist möglich. Und Liebe nützt nur, wenn man sie zeigt.
Zur Startseite