Haltung, Humor und himmlischer Krach
Gäbe es eine Art Arche Noah für Populärmusik, in die von jedem Künstler, von jeder Künstlerin, von jeder Band nur ein einziger Song marschieren dürfte, bevor der Rest der Welt in einer riesengroßen Flut verschwindet, welcher wäre das wohl bei der Berliner Rockband Tocotronic? Nimmt man den Beifall beim Konzert in der Columbiahalle am Samstagabend als Maßstab, ist die Antwort klar: bei „Aber hier leben, nein danke“ vom 2005 erschienenen Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“ aus.
Alleine, wie Dirk von Lowtzow seine Faust in den Himmel wirft, wie er den Song ansagt! Das „Aber hier leben“ schmettert er dem Publikum entgegen, welches dann das „Nein Danke!“ übernimmt. „Wow“, ruft von Lowtzow, seine Stimme läuft kurz Gefahr, ins Krächzen zu kippen.
Dann schlägt Arne Zank an den Drums den Takt an und auf einem Schlag ist einem klar, wie sehr einem über die letzten zweieinhalb Jahre solche Konzerte gefehlt haben und warum Tocotronic so eine rasend gute Band sind: Sie wissen genau um das Spiel mit den Erwartungshaltungen ihrer Fans. Und sie verstehen es ihnen mit Wertschätzung, aber auch mit dem nötigen Humor entgegenzutreten.
Der Auftritt in der Columbiahalle ist Teil der Tournee zum aktuellen Album
Dirk von Lowtzow, Arne Zank sowie ihre Kollegen Rick McPhail und Jan Müller an Gitarre und Bass sind aktuell nicht nur zwischen den Städten, sondern auch Zeiten unterwegs. In Hamburg spielten sie am Abend zuvor ein Konzert, bei dem sie ihr Frühwerk Revue passieren ließen. Die bis heute andauernde Berlin-Epoche kommt am 3. September mit einem Abend im Potsdamer Waschhaus zu ihrem Recht, der Auftritt in der Columbiahalle ist Teil Teil der Tournee zum aktuellen Album „Nie wieder Krieg“.
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Der Song „Aber hier leben, nein danke“ lässt sich als Scharnier zwischen beiden Epochen begreifen, die in der ausverkauften Halle in etwa paritätisch bedacht werden. „Nie wieder Krieg“ prägt vor allem das erste Drittel des Konzerts. Von Lowtzow spricht gleich zu Beginn der Ukraine seine Solidarität aus und merkt an, wie die Band beim Schreiben des Songs 2018 noch gar keine Ahnung hatte, in was für eine Welt dieser bei seiner Veröffentlichung platzen würde.
Und in der Tat: Wie er sein „keine Verletzung mehr“, sein „Das ist doch nicht so schwer“ rausfleht, wie nur vier weiße Scheinwerfer auf der Band liegen, scheint das Pathos der Albumversion aus dem Lied rausoperiert zu sein. Das berührt. Trotzdem ist es eine Erleichterung, dass die Band kurz darauf im als „agnostisch-antifaschistischen Sommerhit“ angekündigten „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ ordentlich, pardon, losrockt und auch die Lightshow an Dynamik gewinnt.
Weite Teile des Publikums begleiten die Band schon über viele Jahre
Was folgt, ist ein Best of Greatest Hits. Sie führen vor Augen, wie lange nicht nur diese Band, sondern auch weite Teile des Publikums mittlerweile dabei sind. Die erstaunlich vielen Gassenhauer aus dem Tocotronic-Mesozoikum wie „Digital ist besser“ oder „Ich verachte euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“ sind Zuckerwürfel für die Anwesenden – aufpeitschend und hochkalorisch.
Beglückend blitzt „This Boy Is Tocotronic“ auf. Dessen leicht verschleppter Live-Beginn erinnert stark an US-Postcore-Bands und natürlich „Let There Be Rock“. Der Song ist auf Tocotronic-Konzerten immer ein Gradmesser dafür, wie sehr sich von Lowtzow reinwirft. Wie weit gestattet er es sich, den Gesang ins Exaltierte zu steigern, so dass es auch ein bisschen albern klingt? Die Antwort lautet diesmal: sehr!
Der Song „Hoffnung“ spendete während dem Lockdown Trost
Stiller wird es selten. Klar, in „Hoffnung“. Das ist noch so ein Song, der sich mit Wirklichkeiten beschäftigt, die sich erst manifestierten, nachdem er schon geschrieben war. „Hoffnung“ erschien zu Beginn der Corona-Pandemie und spendete mit Zeilen wie „Ein kleines Stück Lyrics und Music gegen die Vereinzelung“ im Lockdown Trost.
Das an den Schluss gesetzte „Ich habe Stimmen gehört“ erlaubt ein Innehalten und Umschauen. Links vom Merchandise-Stand, wo ein wenig Platz ist, tanzt ein junger Mann mit sich selber Pogo. Ein anderer, der von ganz vorne nach ganz hinten marschiert, zeigt seiner Freundin stolz die in der Tat beeindruckenden Schweißfleck-Landschaften auf seinem T-Shirt.
Mit „Freiburg“ endet das Konzert nach insgesamt drei Zugaben. Keine Überraschung, aber: himmlischer Krach und damit eine der schönsten Angelegenheiten der Welt.