Gib Tyrannen keine Chance

Eine der Herausforderungen, mit denen Opernaufführungen konfrontiert sind: Die Musik mag zeitlos sein, der Stoff ist es oft nicht, vielmehr geprägt von den feudalen und bürgerlichen Gesellschaftssystemen des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen die meisten Opern entstanden sind. Und damit voller Chiffren und Zeichen, die unsere Gegenwart nicht mehr umstandslos entziffern kann.

Bei „Fidelio“, Beethovens einziger Oper und seinem Schmerzenskind, das in drei Fassungen mit vier Ouvertüren existiert, ist es anders. Ein politischer Gefangener, der unrechtmäßig im Kerker schmachtet? Das ist, leider, mehr als anschlussfähig an unsere Zeit, in der der belarussische Blogger Roman Protasewitsch aus einer Ryanair- Maschine heraus entführt wird, in der eine mächtige Staatsmaschinerie Oppositionelle wie Alexey Nawalny in Russland oder Joshua Wong in Hongkong hinter Gittern verschwinden lässt.

Im idyllischen Rheinsberg scheint knallharte Politik erstmal weit weg. Immer schon war dies ein Ort der Entspannung und Ablenkung, erst für den jungen Friedrich, bevor er König wurde, dann für Bruder Heinrich. Am Mittwoch lacht der Himmel nicht, aber er ist gnädig, erlaubt nach einem harten Pandemiejahr immerhin, dass dieser „Fidelio“, die für die Kammeroper wichtigste Premiere des Jahres, wie geplant im Freien stattfinden kann.

Die Bühne ist riesig, die Musik fragil

Natürlich sollte die Produktion schon 2020 gezeigt werden, aber Georg Quander, Direktor der Kammeroper und Regisseur des Abends, hat in seiner kurzen Begrüßung keine Probleme damit, Beethovens Jubiläumsjahr mal eben nonchalant neu zu definieren. Schließlich kam der Meister erst im Dezember 1770 zur Welt – so gesehen bleiben uns also sogar noch einige Monate, bevor die Feierlichkeiten enden. Nachdem bis Juni völlig unklar war, ob in Rheinsberg dieses Jahr überhaupt etwas passieren kann, holt Quander jetzt das geplante „Fest für Beethoven“ nach, so waren unter anderem Beethovens Bearbeitungen von Volksliedern zu hören. Alles aber lief auf diese Premiere zu.

Die Bühne ist riesig. Nicht das barocke Heckentheater ist diesmal Spielstätte, sondern der hufeisenförmige Hof, der vom Kavalierhaus und seinen beiden Flügeln gebildet wird. Man hat die Breite der Deutschen Oper im Kopf, Bayreuth, sogar Salzburg – in der märkischen Kleinstadt denkt man dieses Jahr groß. Mehrere gewaltige Stelen aus täuschend echt imitiertem Beton (Bühne: Christoph Gehre) bilden die fragmentierte Spielfläche, sie erinnern – eine Assoziation, die inhaltlich allerdings nicht weiter führt – ans Berliner Holocaust-Mahnmal. Mittendrin, nicht frontal davor sind die Brandenburger Symphoniker platziert, sie werden vom Geschehen quasi umspült: Das Orchester als Mittelpunkt, auch ein Statement.

Als der geschätzte Peter Gülke den Taktstock hebt, wird klar: Die Musiker und Musikerinnen spielen unverstärkt, Lautsprecher sind nirgends zu sehen. Was einen berührenden Effekt hat. Der reine Naturklang der Instrumente muss sich im Freien mit dem anderen Naturklang messen, dem Geräusch des Windes, Quaken der Wildgänse, Gesang der Schwalben. Immer wieder mal reißt die Musik sekundenweise auch ganz vom Ohr ab, sie ist fragil, prekär – und erscheint deshalb umso wertvoller, umso errungener.

Die frühe Fassung entrückt Leonore noch nicht ins Engelhafte

Gespielt wird die frühe Fassung von 1805, in der Leonore noch realistisch-menschlicher, noch nicht ins Engelhafte entrückt erscheint und ihre Tat – sich monatelang als „Fidelio“ zu verkleiden und so den eingekerkerten Gatten Florestan vor dem Dolch des ruchlosen Don Pizarro zu retten – einfach die Handlung einer individuellen, mutigen Frau ist, noch nicht beladen ist mit der Fracht, Ausdruck eines universellen menschlichen Freiheitsdrangs sein zu müssen. Larissa Angelini singt die Titelrolle solide, aber etwas gezügelt im Ausdruck, die spielfreudige Daniela Ruth Stoll, Schweizerin auch sie, läuft ihr da fast den Rang ab.

Stolls Marzelline ist eine selbstbewusste junge Frau, die kein Problem damit hat, den einen (Jaquino, gesungen von Wagner Moreira) für den anderen (eben Fidelio, von dem sie denkt, dass er ein Mann ist) einzutauschen, wenn er ihr besser gefällt. ktivposten des Abends ist auch Florian Zanger als Gouverneur Don Pizarro, dessen Bariton von alleine eine natürliche Autorität, dessen Erscheinungsbild eine schnauzbärtige Unheimlichkeit transportieren. Brad Cooper singt Florestan mit einer Mischung aus abgründiger Verzweiflung und unbedingter Widerstandskraft, seine Ketten rasseln und klimpern, während er von unten angestrahlt wird, was ihm die Anmutung eines wilden Tieres verleiht.

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Die Sängerinnen und Sänger geben ihr Bestes, auf der enormen Bühne Wirkung zu entfalten, aber auch sie können nicht verhindern, dass sich vieles schlicht versendet – zumal Georg Quanders Inszenierung auf weiten Strecken ambitionslos bleibt. Mal schimmern die Betonstelen blutrot, das macht Effekt, aber ansonsten ist der weite Raum kaum gegliedert und gefüllt. Drei Galgen stehen herum, weitgehend ohne Funktion. An einem baumelt eine Schaukel, die einmal auch von Marzelline genutzt wird, an den beiden anderen Sandsäcke, deren Sinn sich nicht erschließt.

Peter Gülke widmet sich jedem einzelnen Ton mit Leidenschaft, aber das eher getragene Tempo seines Dirigats verleiht dem Abend Zähigkeit. Daran hat auch Bartosz Szulc seinen Anteil, der als Sänger Kerkermeister Rocco zwar einen edlen Bassbariton-Glanz verleiht, sprechend in den Rezitativen aber doch deutlich mit seinem Deutsch zu kämpfen hat und so die Inszenierung verlangsamt.

[„Fidelio“, Aufführungen 6.-8., 11., 12. und 14.8., Sinfonischer Ausklang am 21.8., www.kammeroper-schloss-rheinsberg.de]

Erst in der letzten Viertelstunde, mit Leonores und Florestans Duett „O namenlose Freude“, kommt Zug ins Geschehen, der Apollo-Chor der Berliner Staatsoper (Georg Quanders früherer Wirkungsstätte als Intendant) hat einen geschliffenen Auftritt. Alles läuft natürlich auf das Deus-ex-machina-hafte Erscheinen Don Fernandos (Helgi Reynisson) zu, der Pizarro verurteilt und Florestan befreit. Spätestens hier merkt man, dass wir eben doch im Musiktheater sind. Dass Kunst etwas ganz anderes ist als Leben. In Belarus braucht Roman Protasewitsch auf einen Don Fernando nicht zu hoffen.