Die “Wilde Bühne” und die goldenen Zwanziger

Bei dieser Premiere wäre man zu gern dabei gewesen: Im Herbst 1921 wird die „Wilde Bühne” mit einem Prolog von Kurt Tucholsky eingeweiht, es folgen deftige Bänkelsänge und Balladen, dann ein Chanson-Zyklus mit dem Titel „Asphalt“, bevor das Programm in dem Dramolett “Das Viech” kulminiert, einer “Schaustellung ohne einheitliche Handlung”. Was da im neuen Kabarett der Sängerin Trude Hesterberg über die Bühne geht, klingt nach Goldenen Zwanzigern – und nach viel Spaß.

Während in Berlin-Mitte die glitzernden Revue-Etablissements um Kundschaft werben, steht in Charlottenburg die literarisch-politische Kleinkunst in voller Blüte. Und hier will auch die „expressionistische Soubrette“ Trude Hesterberg mitmischen. Sie mietet im Sockelgeschoss des Theaters des Westens ein paar Räume, die bislang als Restaurant genutzt worden sind, und baut sie um in einen Saal für 175 Gäste, die beim Amüsemang an Tischen sitzen – wobei „kein Weinzwang“ herrscht, wie ausdrücklich auf den Werbeplakaten betont wird.

Nachzulesen und -zuschauen ist das in dem schmalen, elegant aufgemachten Bändchen „Wilde Bühne & Nachfahren“, das Thimo Butzmann herausgegeben hat (BoD, gebunden, 104 Seiten, 19,99 Euro). Hauptberuflich ist der Autor seit 1992 Klima- und Haustechniker im Theater des Westens, doch in seiner Freizeit beschäftigte ihn stets die Historie des Hauses, er streifte über Trödelmärkte, fahndete nach alten Programmheften und Postkarten. 

Vom einstigen Glanz ist nichts übrig geblieben

Reich bebildert ist darum seine Chronik des Ortes, der heute einem ganz profanen Zweck dient: Hier befinden sich die Umkleideräume des Orchesters sowie der Aufenthaltsraum der Theatertechniker. In den achtziger Jahren wurden diverse Zwischenwände eingezogen, wo einst die Kabarett-Bühne war, befinden sich jetzt die Gemeinschaftsduschen.

Butzmann berichtet, dass Curt Bois und Blandine Ebinger in der „Wilden Bühne“ aufgetreten sind, dass Ringelnatz, Klabund und auch Bertolt Brecht Texte lieferten. Die meisten Lieder komponierte Werner Richard Heymann, der später mit seiner Filmmusik zu den “Drei von der Tankstelle” berühmt wurde, am Klavier saß der blutjunge Peter Kreuder.

Marlene Dietrichs Schwager vermietete an Friedrich Hollaender

Doch das Vergnügen währt nur zwei Jahre: Nachdem im November 1923 durch eine schadhafte Sicherung ein Kabelbrand ausgelöst worden war, gab Trude Hesterberg ihren Traum vom eigenen Theater auf, verdingte sich erneut als Operettensolistin. Der Komiker Wilhelm Bendow wurde ihr Nachmieter, ab 1931 betrieb dann Friedrich Hollaender hier sein “Tingeltangel”.

Hollaenders Vermieter war Georg Will, der Ehemann von Marlene Dietrichs Schwester. Die Schauspielerin besuchte als Stargast die Premiere des Eröffnungsprogramms, dessen Nummern unter anderem, „Ein Aufschrei am Schiffbauerdamm“ hießen, „Gebet einer 15-dreiviertel-Jährigen“, „Nur für Herren“ oder auch „Vom Filmdirektor, der das Gruseln lernte“.

Nach der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler 1933 musste Hollaender sofort fliehen, die Bühne wurde zwar noch bis 1935 von verschiedenen anderen Pächtern bespielt, aber nur noch mit harmloser Unterhaltung. Dann wandelten die Nazis das Theater des Westens zur „Großen Volksoper“ um, und aus dem Kabarett wurde der Aufenthaltsraum der Techniker.