Die Stille über den Trümmern
Sie ist eins der rätselhaftesten Werke im Kosmos Klassik und sperrt sich noch immer gegen den Einzug in den Spielplanalltag. Schostakowitschs Vierte Symphonie erscheint bodenlos in nahezu jeder Hinsicht. Gewaltig der zusammengetürmte Orchesterapparat, unbändig die Eruption der Klänge, unauflösbar der Schatten, der auf die Partitur gefallen ist. Wenn man mit den ersten infernalischen Takten in den Sog von Theodor Currentzis und seinem verschworenen Orchester Musicaeterna gerät, versteht man unmittelbar, warum Schostakowitsch seine Vierte kurz vor der Uraufführung 1936 zurückzog. Der Komponist hatte zuvor bereits die erbarmungslose Kritik Stalins auf sich gezogen, der in der Prawda „Chaos statt Musik“ anprangerte.
Currentzis’ Hand fährt nicht zufällig mit der Geste des Kehledurchtrennens über den Hals, während das Spiel der Hörner erstirbt: Die Vierte ist ein Himmelfahrtskommando, dem Schostakowitsch selbst gerade noch entgehen konnte. Erst nach Stalins Tod wurde seine Symphonie uraufgeführt – und in der Philharmonie scheint es, als hätte man sich seitdem nicht wirklich an sie gewöhnen können. Currentzis’ furiose, wie immer stehend spielenden Musikerinnen und Musiker fegen jeden Gedanken an eine klassische Abklingphase hinweg. Die Wildheit wütet ungebremst, und selbst die eingestreuten Anklänge an Gustav Mahler lassen sich nicht zu einem Traditionsfaden spinnen, der herausführen könnte aus einem heillos zerklüfteten Labyrinth.
Currentzis beschönigt nichts und feiert gerade damit den rastlosen Geist eines Komponisten, der es überlebte, zum Spielball des Terrors geworden zu sein. Das könnte man didaktischer, sicher auch zarter vermitteln, doch dazu bräuchte es Musicaeterna nicht. Es ist ebenso fulminant wie verstörend, wenn sich dieses Kollektiv trotz aller Klangmacht nicht in Höhepunkt und Erfüllung pusht. Das Glockenspiel danach schwebt gespenstisch über den Trümmern der Geschichte. Gegen diese Vierte ist die vorangestellte Uraufführung von Marko Nikodijevićs Toccata für Orchester „parting of waters into heavens and seas“ ein harmloses Vorspiel. Nach Orchesterschlägen, die Holz und Blech wundersam verschmelzen, setzt ein dunkles Strömen ein. Bis in Schostakowitschs Welt dringt es nicht.