Anna Giens Buch „Paris・Rot“: Wenn die Fassaden träumen
„Die Königstöchter haben die Festung gestürmt“ – dieser Satz aus einer der surreal-märchenhaften Passagen in Anna Giens jüngstem Werk „Paris・Rot“ fasst dessen Grundmotive ziemlich treffend zusammen. Da verwandeln sich scheinbar hilflos auf spindeldürren Absätzen durch die Gegend staksende Mädchen unversehens in Raubtiere. Eine Schauspielerin, die in einem drittklassigen Varieté-Theater die „Königin der Nacht“ gibt, wächst zu einer Riesin an, die mit ihren Tränen halb Paris überflutet. Mehr als einmal geht ein Haus in Flammen auf, und dann ist da nichts mehr: „Nur noch der Krater, den sie hinterließ.“
Lustvoll und sprachgewaltig dekliniert die 1991 geborene Autorin weibliche Selbstermächtigung und weibliches Begehren durch, von unterkühlt-realistisch bis grotesk-phantastisch. Die Szenarien, die dabei entstehen, lassen in ihrer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Trash an die gerade angelaufene Serien-Adaption von Naomi Aldermans feministischem Sci-Fi-Roman „Die Gabe“ denken: Junge Mädchen schleudern Blitze gegen das Patriarchat, im Auftrag von Amazon Prime Video. Ist das jetzt Utopie oder Dystopie? Weder noch? Oder irgendwie beides? Ähnliches kann man sich auch bei „Paris・Rot“ fragen, und vermutlich ist genau das beabsichtigt.
Düstere Erotik
Weibliches (Auf-)Begehren, Exzess und Ennui, Subversion und Vereinnahmung – all das war bereits im Roman „M.“ Programm, den Gien 2019 zusammen mit der Künstlerin und DJ Marlene Stark vorgelegt hat. Der kam mit Drive und Witz und der nötigen Portion Tristesse daher, ließ sich jedoch allzu leicht die Stempel „Berlinroman“, „Kunstbetriebssatire“ und „Pornografie“ aufdrücken. Innerhalb dessen blieb er erwartbar, der Sex provokante Pose, die Rebellion ein fruchtloses Rütteln an den Gitterstäben seines selbst errichteten Käfigs.
„Paris・Rot“ dagegen provoziert nicht – oder zumindest nicht mit Sex. Zwar durchzieht das Buch eine düstere Erotik, pornografische Szenen jedoch sucht man vergeblich. Weitaus subtiler als „M.“ spielt der Text mit den Tropen der Verführung, dem nicht eingelösten Versprechen. Ein Roman ist dieses Buch sicherlich nicht, und auch keine Kurzgeschichtensammlung, sondern vielmehr ein somnambules Kaleidoskop, in dem wir uns größtenteils selbst zurechtfinden müssen. Ausgangspunkt der Phantasmagorie scheint eine gewisse Madeleine zu sein, die in einem Pariser Hotelzimmer auf den Weltuntergang wartet.
Im Folgenden jedoch splittet sich ihre Identität immer weiter auf, und aus Madeleine wird Ora, Patricia, Juliette, Ophélie. Diesen Figurenreigen wirft Gien von einem Traum in den nächsten, zusammengehalten lediglich von einer vage apokalyptischen Atmosphäre – Schwefelgeruch, die Bedrohung durch einen schwarzen Kometen, Brände, versteckte Waffenlager, Aufstände, ein Jahrtausendsturm. Und natürlich der Farbe Rot, die immer wieder aufblitzt, z.B. in Form eines Bordells namens „Rouge“, das wiederum mannigfaltige Assoziationen und Erwartungen weckt, „das samtige Schimmern der Bühnenvorhänge und die kunstvolle Verdorbenheit der Lampenschirme und Bordüren“, eine weitere Verheißung, die vermutlich auf falsche Fährten lockt.
Barock-schwülstige Passagen, die halb einem Céline-Roman, halb einer skurrilen Steampunk-Fantasie à la „Die Stadt der verlorenen Kinder“ entstammen könnten, wechseln sich ab mit glatt-ironisch erzählten Near-Future-Szenarien, wie etwa das großartige Kapitel „Le Trou“, in dem ein gewaltiger Schneesturm eine junge Sexarbeiterin in einem Wellnesshotel in den Tiroler Alpen gefangen hält.
Bravourös switcht Gien zwischen den sprachlichen Registern, spielt mit Versatzstücken aus Hoch- und Popkultur, mit Masken, Verkleidungen und dem (Frau-)Sein als Performance. Es geht um Fassaden und Projektionsflächen, Fremdbezeichnungen und Selbstinszenierungen, Schauen und Angeschautwerden – und letztendlich immer auch um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, dem männlichen Blick zu entkommen.
Dass eine magische Verkehrung der Machtverhältnisse zu mehr Freiheit führen würde, scheint für Gien ebenso zweifelhaft wie die Vorstellung eines Neuanfangs bei null. Allzu plakative Schlachtrufe nach Emanzipation und Revolution finden bei ihr oft ironische Kippmomente, etwa wenn sich ein Massenprotest zu den Klängen von ABBA in Wohlgefallen auflöst oder eine Königin am Ende ihrer Regentschaft durch eine Klappe unter ihrem Thron in „den jahrhundertealten Kompost am Boden des Schlosses“ plumpst.
„Paris・Rot“ ist klug, poetisch, sinnlich und anspielungsreich, bleibt über weite Strecken allerdings ziemlich kryptisch. Oder, um noch einmal den Vergleich mit „M.“ zu bemühen: Der Text lässt sich nicht penetrieren. Beim ersten Lesen mag sich das wie eine Schwäche anfühlen, im Lauf der Lektüre entpuppt sich seine Undurchdringlichkeit jedoch mehr und mehr als Stärke. Der Text will weder anecken noch gefallen, will weder in ein Genre passen noch ein neues erfinden. Er existiert einfach, in seinem ganzen schlüpfrigen, schillernden Sein. „Für mich, als ich träumte“, begreift man, ist als Motto durchaus ernst gemeint.