Englische Selbstkrönung mit Risiko
Die allgemeine Freude war so groß, so überwältigend, dass sie nichts trüben konnte. Nicht der Regen am Trafalgar Square, nicht die steigenden Coronavirus-Fallzahlen, nicht einmal die länger als erwartet anhaltenden Beschränkungen im Königreich Großbritannien. Mit dem 2:0-Sieg gegen Deutschland im EM-Achtelfinale hatte Fußball-England genau das, wovon es seit Jahrzehnten geträumt hatte: einen bedeutsamen Sieg im Turnier gegen Deutschland und eine echte Chance auf einen Titel.
Auch die Schlagzeilen wurden am Tag danach vom Triumph von Wembley dominiert. Von brüllenden Löwen und dem Ende eines Fluchs war in den meisten Zeitungen auf den ersten Seiten die Rede. Nur eine Publikation hatte auch ein anderes Thema auf der Titelseite. „EU-Bürger kämpfen um das Recht, in Großbritannien zu bleiben“, hieß es beim „Independent“ unter dem Bild eines jubelnden Harry Kane.
„Das ist Geschichte, wir wurden immer wieder auf die letzten Spiele angesprochen, aber wir haben Geschichte geschrieben“, sagte Mittelfeldspieler Declan Rice bei der „BBC“. „Ich war noch nie Teil eines Teams mit so einem Zusammenhalt. Wir glauben wirklich daran.“
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Es ist wohl die größte Ironie dieser Zeiten. Jahrelang war England ein offenes Land mit einer Fußballmannschaft, die immer wieder an einer Kultur der eitlen Selbstherrlichkeit scheiterte. Heute ist genau das Gegenteil der Fall. Während das Land die dort lebenden Ausländer immer mehr ausgrenzt, und ihnen das Leben immer schwerer macht, ist die Nationalmannschaft offener denn je, und auch deswegen äußerst erfolgreich.
Die Krönung des neuen Englands
In den jüngsten zehn Jahren hat der englische Fußball mit Demut nach Frankreich, Spanien und Deutschland geschaut, und die eigenen Strukturen entsprechend reformiert. Dabei hat er eine goldene Generation von Spielern erzogen, die taktische Ideen aus der ganzen Welt verinnerlicht haben. Das entscheidende Tor von Harry Kane, schrieb die „Daily Mail“ am Dienstag, sei „direkt aus dem Strategiebuch von Jürgen Klopp“. Der Sieg gegen Deutschland war die finale Bestätigung dieses erfolgreichen Wegs, der schon unter Roy Hodgson in Gang gesetzt wurde und nun unter Gareth Southgate so richtig ins Rollen kommt. Es war die endgültige Krönung des neuen Englands.
Nun darf man wirklich träumen auf der Insel. Denn die Mannschaft von Southgate hat jetzt theoretisch einen leichten Weg ins Finale, muss sich nur gegen die Ukraine und Tschechien oder Dänemark durchsetzen. Der deutsche Drache sei nun „erschlagen“, schrieb der „Guardian“. „England wird etwas schwindelig, aber mit voller Überzeugung zum Spiel am Samstag gegen die Ukraine nach Rom reisen.“
Auch die „Daily Mail“ strotzte vor Optimismus. „Ab jetzt ist alles möglich. Es ist unmöglich, die Bedeutung dieses Sieges zu übertreiben“, schrieb die Boulevardzeitung. „Wenn England so entschlossen gegen Deutschland gewinnen kann, dann kann es jede Mannschaft in dieser Hälfte des Turniers schlagen. Darüber gibt es jetzt keinen Zweifel mehr.“
Trainer Southgate warnt vor Übermut
Dabei warnte Gareth Southgate schon am Dienstag vor Übermut und Selbstgefälligkeit. „Es ist ein gefährlicher Moment für uns“, sagte Englands Trainer. „Gefährlich sind die Wärme des Erfolgs und das Gefühl, automatisch gewinnen zu können. Wir wissen, dass wir eine riesige Herausforderung noch vor uns haben. Wir sind hierhergekommen mit einem Ziel. Und wir haben immer noch nicht das geschafft, was wir schaffen wollen.“
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Das Ziel ist der Titel. Und die große Herausforderung für Southgate und seine Mannschaft lauert nun eher im Kopf als auf dem Platz. Denn nach einer bescheidenen Gruppenphase herrscht auf der Insel nun pure Euphorie, und grenzenlose Hoffnung. Je näher man ans Finale herankommt, desto höher wird der Druck werden. Das alte England und seine überhöhten Ansprüche werden zumindest versuchen, wieder aufzutauchen.
Gewinnen kann aber nur das neue England. Das bescheidene England, das den Erfolg nie als Selbstverständlichkeit, aber immer als Möglichkeit sieht. Das England, das die traditionelle Neurose, den Aberglauben und den Größenwahnsinn um die Nationalmannschaft abschüttelt. Die Spieler müssen es in den nächsten Runden erneut schaffen, den immer lauter werdenden Lärm auszublenden.
Das haben sie bei dieser Europameisterschaft schon zweimal erfolgreich gemacht: Zuerst nach dem enttäuschenden Unentschieden gegen Schottland und später vor dem massiv gehypten Spiel gegen Deutschland. Wenn sie es noch weitere zwei Mal schaffen, dann stehen sie im Finale. Wieder in Wembley. Und dort ist wirklich alles möglich.