Irgendwas war immer

Ilkay Gündogan ist mit seinen 30 Jahren, zumindest für Fußballverhältnisse, ein sehr erfahrener Mann. Da liegt es natürlich nahe, ihn auch als Zeitzeuge zu historischen Themen zu vernehmen. Nachdem der deutsche Nationalspieler mit seinen Kollegen vor ein paar Tagen das EM-Quartier im Wald von Herzogenaurach bezogen hatte, sollte er mal aus eigener Anschauung über die Parallelen zum Campo Bahia bei der WM 2014 in Brasilien berichten, von der bereits so oft die Rede war.

Gündogan bestätigte, dass die Bedingungen in Herzogenaurach fantastisch und echt phänomenal seien, aber mit einem konkreten Vergleich zum Campo Bahia tat er sich aus verständlichen Gründen etwas schwer: „Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie es 2014 war.“ Er war 2014 nämlich leider gar nicht dabei.

So ist ihm das oft ergangen, vor allem wenn ein großes Turnier anstand. Als Fußballer ist Gündogan über alle Zweifel erhaben. „Der Ilkay ist außergewöhnlich gut, ein außergewöhnlich guter Stratege“, sagt zum Beispiel Bundestrainer Joachim Löw. Seit fünf Jahren spielt Gündogan bei Manchester City, einem Klub, der sich die besten und teuersten Spieler der Welt leisten kann; er hat Titel en masse gesammelt, allerdings nur mit seinen Vereinen. Gündogans Karriere in der Nationalmannschaft hingegen ist bisher unvollendet.

Schlechte Quote bei großen Turnieren

Um die ganze Dimension seiner Geschichte zu ermessen, muss man noch einmal an den Anfang zurückkehren. In den Sommer 2011, in dem Gündogan gerade am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Nürnberg sein Abitur bestanden hatte und anschließend vom 1. FC Nürnberg zum Meister Borussia Dortmund wechselte. Noch vor seinem ersten Pflichtspiel für den BVB ereilte den damals 20-Jährigen eine Einladung für das Freundschaftsspiel der Nationalmannschaft gegen Rekordweltmeister Brasilien in Stuttgart.

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Christian Träsch stand damals in der Startelf, Simon Rolfes wurde in der zweiten Hälfte eingewechselt, und Tim Wiese verbrachte den Abend neben Gündogan auf der Ersatzbank. Seitdem stand die deutsche Nationalmannschaft zweimal im EM-Halbfinale, sie gewann den Confed-Cup, wurde Weltmeister und schied 2018 bei der WM schon in der Vorrunde aus. Bei all dem hat Ilkay Gündogan eine kaum größere Rolle gespielt als Christian Träsch, Simon Rolfes und Tim Wiese.

Gündogans Geschichte in der Nationalmannschaft ist vor allem eine Geschichte der verpassten Möglichkeiten. Von den knapp 125 Länderspielen seit seinem Debüt hat Gündogan 46 bestritten, weniger als Joshua Kimmich, der erst knapp fünf Jahre später erstmals für die Nationalmannschaft zum Einsatz kam. Und bei großen Turnieren ist er trotz seiner herausragenden Veranlagung ein einziges Mal zum Einsatz gekommen. Das war bei der Weltmeisterschaft 2018, als er im Vorrundenspiel gegen Schweden für den verletzten Sebastian Rudy eingewechselt wurde.

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Irgendwas war immer: 2012 verbrachte Gündogan die EM komplett auf der Ersatzbank, obwohl er in der Saison vor dem Turnier schon eine herausragende Rolle beim Double-Sieger Borussia Dortmund gespielt hatte. Rund um die WM 2014 fiel er mit einem Nervenwurzelreizsyndrom mehr als ein Jahr lang aus, und 2016 stoppte ihn eine Knieverletzung. Bei der WM in Russland dann wurde ihm das Foto mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan zum Verhängnis.

Endlich Stammkraft?

So ist Gündogans Stellung im Nationalteam über all die Jahre eine prekäre geblieben. Das lag zum einen an seinem Körper, zum anderen an der Konkurrenzsituation im zentralen Mittelfeld. Zu Beginn seiner Karriere hießen seine Mitbewerber Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira; aktuell sind es Toni Kroos, Joshua Kimmich und Leon Goretzka. Noch im November hat Gündogan über seine Situation gesagt: „Ich sehe mich nicht als Stammspieler, wenn ich ganz ehrlich bin.“ Im März klang er schon etwas forscher: „Ich bin selbstbewusst genug, um zu sagen, dass ich die Qualität habe zu spielen – und auch spielen sollte. Aber das Gefühl hatte ich immer, auch 2018.“

Diesmal trügt ihn sein Gefühl wohl nicht: Goretzka ist nach seiner Muskelverletzung für den EM-Auftakt am Dienstag gegen Frankreich noch nicht ausreichend spielfit, und Kimmich wird nach Lage der Dinge wohl als Rechtsverteidiger aushelfen, so dass nur Kroos und Gündogan für die Zentrale übrigbleiben. Der offensiven Wucht der Franzosen würde Bundestrainer Löw also eine maximal spielstarke und ballsichere Besetzung im defensiven Mittelfeld entgegensetzen.

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Dass Gündogan sich für die Europameisterschaft als gesetzt fühlen darf, hängt auch mit der starken Saison zusammen, die er bei Manchester City gespielt hat. 13 Tore hat er in der Liga erzielt und damit nicht unwesentlich zum Meistertitel beigetragen. Allerdings ist Gündogan bei City vornehmlich in einer offensiveren Rolle zum Einsatz gekommen. „Ich habe als Achter, fast schon als Zehner gespielt“, sagt er. Nur im Finale der Champions League stellte Trainer Pep Guardiola ihn als alleinigen Sechser vor die Abwehr. Eine Entscheidung, die viele für die Niederlage gegen Chelsea verantwortlich gemacht haben – weil Guardiola seiner Mannschaft dadurch eine ihrer Stärken nahm.

Bei diesem Thema wird der sonst so eloquente Gündogan ziemlich wortkarg. „Es ist nicht leicht, so ein großes Spiel zu verlieren“, sagt er. „Aber das ist irgendwo das Schöne am Fußball: dass es immer weiter geht und man nicht großartig Zeit hat, darüber nachzudenken.“ Er kennt das schon.