Zurück auf die Schulbank
Am 4. Oktober 1957 wurde „Sputnik I“, der erste Satellit, in seine Umlaufbahn geschossen. Dass die Sowjetunion den USA mit dieser technischen Höchstleistung zuvorgekommen waren, löste im Westen den „Sputnik-Schock“ aus, das Erschrecken über den drohenden Rückstand in der Ost-West-Konfrontation.
In der Bundesrepublik war es eher das Donnerwort von der „Bildungskatastrophe“, das der Pädagoge Georg Picht 1964 aussprach, das den kritischen Zustand des Bildungswesens ins öffentliche Bewusstsein rief. Kaum minder wirkmächtig war im folgenden Jahr das Buch des Soziologen Ralf Dahrendorf mit dem programmatischen Titel „Bildung ist Bürgerrecht“.
Denn darum ging es, mehr noch als um den internationalen Konkurrenzkampf: um das Recht auf Zugang zur Bildung für die ganze Breite der Gesellschaft. Die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit machten den Nachholbedarf an Schulen und Bildungseinrichtungen um so dringlicher.
Weltweit wurde in den sechziger und siebziger Jahren wie am Fließband gebaut. Im Westen mischten sich alsbald kritische Töne in den Bauboom, wurden alternative Schul- und Schulbaukonzepte gefordert. In den Ländern der eben erst aus kolonialer Abhängigkeit entlassenen Staaten des Globalen Südens mussten nationale Bildungssysteme überhaupt erst geschaffen werden.
Ein Panorama internationaler Anstrengungen um mehr Bildung
In 38 „Stationen“ entfaltet die Ausstellung „Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt weniger eine Architekturgeschichte der Bildung als vielmehr ein Panorama der weltweiten Anstrengungen um vermehrte Bildungseinrichtungen und -möglichkeiten. Dabei legt das Team um Kurator Tom Holert ein besonderes Augenmerk auf die Publikationen der damaligen Zeit.
An Stellwänden und auf den als Grundelemente der Ausstellungsarchitektur verwendeten Betonblöcken sind ganze Serien von Büchern und Broschüren befestigt, die bereits sehr von gestern wirken. Sie aufzufinden, bedurfte es gewiss einigen Spürsinns. Was damals in jeder Studenten-WG gelesen wurde – etwa A.S. Neills Elogen auf „Summerhill“ oder Ivan Illichs „Entschulung der Gesellschaft“ –, nimmt inzwischen den Rang kulturhistorischer Dokumente ein.
In der BRD wurden Schulzentren wie aus dem Baukasten geplant
Die reformpädagogischen beziehungsweise gesellschaftsverändernden Konzepte sind das eine – die Räume, sie umzusetzen, das andere. In der Bundesrepublik und West-Berlin wurden Gesamtschulen und Schulzentren wie aus dem Technikbaukasten verfertigt, ähnlich den Typenschulbauten in der DDR.
Diese zeigen je nach den Bezirken, in die die DDR gegliedert war, sogar beinahe mehr Vielfalt als etwa die dreizehn Mittelstufenzentren, die in West-Berlin in nur drei Jahren hingeklotzt wurden. Bis auf eines unter Denkmalschutz sind sie heute samt und sonders wieder verschwunden. Das Katalogbuch bezeichnet den Abriss nach Asbest-Entdeckung als den „größten Immobilienverlust der Nachkriegsgeschichte“.
Weltweit stieg die durchschnittliche Anzahl der Schuljahre, die Menschen bis zum Erwachsenenalter durchlaufen, von 1960 bis 1980 stark an, in der Bundesrepublik – und ähnlich in allen Ländern des Westens – von 9,6 auf 11,35. Der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft zeichnete sich ab, Schlagworte wie „lebenslanges Lernen“ erhielten ihre konkrete Ausfüllung in Gestalt von Bildungsbauten.
Die FU in Berlin ist heute ein Monument der Architekturgeschichte
In Vincennes im Osten von Paris etablierte sich eine Art Gegen-Universität im Gefolge der 68er-Unruhen an der Sorbonne. 1980 war es damit wieder vorbei, und die luftigen, ein wenig an die hiesige Akademie der Künste erinnernden Baulichkeiten wurden abgerissen.
Ein Monument der Architekturgeschichte ist hingegen der Komplex der Freien Universität Berlin, zuerst die „Rostlaube“, später um die „Silberlaube“ erweitert. Das Konzept der Architekten Candilis Josic Woods aus dem Jahr 1963 sah eine gitterartige Struktur von Räumen entlang von „Straßen“ und gruppiert um begrünte Innenhöfe vor, die tendenziell in alle Richtungen erweiterbar ist. Die Reformuniversitäten der sechziger Jahre, ob in Bochum oder Bielefeld, schlossen demgegenüber eher an die Zeilenbauweise von Großsiedlungen an.
38 Stationen umfasst die Ausstellung, eine Reise um die Welt
Die 38 Stationen der Ausstellung – im weiten Ausstellungsraum vom Haus der Kulturen verstreut – sind jeweils durch ein Blechschild mit Titelzeile und meist einem Bildmotiv gekennzeichnet. Manche Stationen gruppieren sich zu regelrechten Sitzlandschaften, wobei die Betonmodule als Hocker dienen. So wird die Atmosphäre von „Offenheit“ und „Flexibilität“ aufgerufen, die die Reformansätze der untersuchten Jahrzehnte kennzeichnen.
Der Ehrgeiz des Kuratorenteams, die ganze Welt in den Blick zu nehmen, hat allerdings eine gewisse Beliebigkeit zur Folge, weil stets nur einzelne Beispiele aus den jeweiligen Ländern gezeigt werden können. So viel mehr wäre noch über die Universitäten in Großbritannien im Gefolge der „Open University“-Bewegung zu erfahren, desgleichen über die Campuses in den USA mit ihrer oft bemerkenswert ambitionierten Architektur!
Die Anstrengungen des Globalen Südens sind davon sehr verschieden. Hier galt es, überhaupt erst Grundvoraussetzungen der Schulbildung zu schaffen, oft mit geringsten materiellen Mitteln, wie die „Militanten Mangroven-Schulen“ in Guinea-Bissau zu Zeiten des Kampfes gegen die portugiesische Kolonialmacht bis 1974 zeigen. Vielerorts dienten Schul- und Universitätsbauten der Selbstdarstellung der jungen Staaten, abzulesen an Projekten aus Nigeria oder Ghana.
Selbst auf dem Bildungssektor bekämpften sich Ost und West
Auch da herrschte Ost-West-Konfrontation: Sowohl die Vereinigten Staaten wie auch die UdSSR exportierten ganze Hochschulen in „befreundete“ Länder. Dass zu dem von der Unesco ausgerufenen „Jahr der Erziehung“ 1970 entsprechende bunte Briefmarkenausgaben von Ländern wie Bahrain, Burundi oder Kambodscha herausgegeben wurden, kann als Hinweis auf gesellschaftsweite Mobilisierung verstanden werden.
[Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee, bis 11. Juli. Mittwoch bis Montag 12 bis 20 Uhr. Katalog im Verlag de Gruyter, 28 €. Der Besuch ist nur mit einem negativen Corona-Test oder dem Nachweis eines vollständigem Impfschutzes möglich. Tickets können digital unter www.hkw.de erworben werden.]
Der auf schlabberweichem Papier im Format eines Uni-Readers gedruckte Begleitband bildet nicht die Ausstellung ab, sondern versammelt Materialien zum Thema, insbesondere gut 80 Seiten Quellentexte. Im Jahr 1967 wurde die Erwartung formuliert, die künftige Schule werde „zur sozialen und gesellschaftlichen Mitte eines Wohnquartiers oder Stadtviertels“. Das ist der Impetus, aus dem heraus Bildungseinrichtungen neu gedacht und vielfach gebaut wurden. Die Ausstellung im Haus der Kulturen gibt Gelegenheit, die heutige Realität an den hehren Hoffnungen von damals zu messen.