Wiedergänger seines Trainers Xabi Alonso: Dank Granit Xhaka hat Leverkusen endlich Ambitionen
Die Lage war ernst. Das große Ziel stand auf dem Spiel, und Granit Xhaka tat, was von einem Führungsspieler erwartet wird. Er ergriff in der Kabine das Wort. „Wer soll denn besser sein als wir?“, fragte er seine Kollegen.
Fast acht Jahre ist das jetzt her. Xhaka spielte bei Borussia Mönchengladbach, und für den Klub ging es um die Qualifikation für die Champions League, die nach zwei Niederlagen gegen die Abstiegskandidaten Ingolstadt und Hannover in ernste Gefahr geraten war. Am Ende – nach Xhakas Impulsreferat an seine Mitspieler – retteten die Gladbacher Platz vier ins Ziel.
Granit Xhaka war schon immer eine starke Führungspersönlichkeit. Doch dass er heute, im Mittelfeld von Bayer Leverkusen, anders führt als zu Beginn seiner Karriere, deutlich subtiler nämlich, das hat vermutlich nicht nur mit zunehmender Reife infolge zunehmenden Alters zu tun. Es liegt wohl auch in seinem Wechsel zum FC Arsenal im Sommer 2016 begründet.
In London geriet der Schweizer in die Obhut des Trainers Arsène Wenger, dem der Ausspruch zugeschrieben wird, er glaube nicht an Führungsspieler, er glaube an gute Passspieler. Dass Wenger mit dieser Einschätzung nicht falsch liegt, das lässt sich in dieser Saison eindrucksvoll bei Bayer 04 Leverkusen beobachten, dem Tabellenführer der Fußball-Bundesliga, der am Samstag den ersten Verfolger Bayern München zum Spitzenspiel empfängt (18.30 Uhr, live bei Sky).
Als Granit Xhaka im vergangenen Sommer mit knapp 31 Jahren und für eine Ablöse von 15 Millionen Euro von Arsenal zu Bayer Leverkusen wechselte, da dachten viele, dass es ihm nur noch um eine möglichst behagliche Zeit bis zum Karriereende gehe. Kolportiert wurde, dass die Rückkehr ins Rheinland vor allem dem Wunsch seiner Ehefrau geschuldet war. Leverkusen, wo die Ambitionen traditionell nie so groß sind, dass sie in Stress ausarten, schien der perfekte Ort für ein wenig aktive Erholung zu sein.
Die Einschätzung hätte falscher nicht sein können. Die Zeiten, da man sich bei Bayer 04 mit dem Vize begnügt hat, sind vorbei. Das hat der Klub nicht zuletzt mit Xhakas Verpflichtung dokumentiert. Der Kapitän und Rekordspieler der Schweizer Nationalmannschaft, den Bayer aus gutem Grund schon länger im Blick hatte, strahlt nicht nur auf dem Platz, sondern auch in der Kabine den maximalen Erfolgswillen aus.
So war Xhaka schon, als er 2012 mit gerade 19 vom FC Basel nach Mönchengladbach kam. Aber damals hatte sein Führungsanspruch noch etwas Angestrengtes. Neben vielen Worten, seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein, einem gewissen Hang zum Jähzorn hat er sich vor allem durch viele vermeidbare Fehler hervorgetan. „Die ersten anderthalb Jahre waren sehr schwer für mich“, hat er selbst einmal gesagt.
Bayer Leverkusen hat in dieser Saison eine beeindruckende Mannschaft beisammen: mit Victor Boniface, dem unwiderstehlichen (aber im Moment verletzten) Stürmer; mit dem magischen Florian Wirtz; mit Alejandro Grimaldo, dem als Außenverteidiger verkleideten Spielmacher, oder mit Jeremy Frimpong, dem rasend schnellen Mann auf der rechten Außenbahn. Granit Xhaka und seine Bedeutung für den Erfolg der Mannschaft von Trainer Xabi Alonso werden hingegen immer noch ein bisschen unterschätzt.
Die Ballsicherheit, das Freilaufverhalten, das ist schon Weltklasse.
Der Berliner Thorben Marx über seinen früheren Mitspieler Granit Xhaka
„Er ist mit der entscheidende Mann“, sagt Thorben Marx, „wenn nicht sogar der wichtigste.“ Marx war selbst Mittelfeldspieler. Er hat Xhaka in dessen wilder Phase bei Borussia Mönchengladbach als Mitspieler erlebt und ihn zeitweise sogar aus der Mannschaft verdrängt – weil Trainer Lucien Favre Marx‘ Berechenbarkeit wichtiger war als Xhakas Hang zu Sturm und Drang. „Er war noch ein anderer Typ“, sagt Marx.
Xhakas Wert für seine Mannschaft erschließt sich nicht unbedingt auf den flüchtigen Blick. Er hat in dieser Saison für Bayer weder ein Tor erzielt noch eins vorbereitet. Aber sein Passspiel ist konstituierend für die Dominanz der Leverkusener. Seine Pässe halten die Maschinerie in Gang, die den Gegner nie zur Ruhe kommen lässt.
Granit Xhaka kommt in dieser Bundesligasaison auf die meisten Ballkontakte und die meisten Pässe. Mit seiner Passquote von 91,9 Prozent liegt er zwar nur auf Rang acht, vor ihm sind allerdings lediglich Innenverteidiger platziert, die positionsbedingt eher risikoarme Pässe spielen. Bei Pässen in den gegnerischen Strafraum liegt Xhaka auf Platz fünf. Und bei raumgewinnenden Pässen (250) ist er mit absurdem Vorsprung Erster vor dem Bochumer Kevin Stöger (153).
„Die Ballsicherheit, das Freilaufverhalten, das ist schon Weltklasse“, sagt Thorben Marx. Xhaka ist für den Gegner quasi nicht zu pressen. Unter der Woche, im Pokalspiel gegen den VfB Stuttgart, wurde er am eigenen Strafraum von Jonas Hofmann angespielt. Ein Gegenspieler klebte an ihm dran. Xhaka, den Blick aufs eigene Tor gerichtet, ließ den Ball durch die Beine laufen und spielte dann mit seinem starken linken Fuß einen Diagonalball über 40 Meter an die Mittellinie und genau in den Fuß von Alejandro Grimaldo.
„Solche Spieler gibt es eigentlich nicht mehr“, sagt Marx. Spieler, die das ganze Spiel ihrer Mannschaft lenken und das Tempo vorgeben.
In gewisser Hinsicht ist Granit Xhaka ein Wiedergänger seines Trainers. Auch Xabi Alonso hat im Mittelfeld gespielt. Auch er war eine Majestät auf dem Platz, der mit seinen Pässen Struktur und Stabilität geschaffen hat. Und der jederzeit wusste: Wer das Zentrum beherrscht, der beherrscht auch das Spiel.