Die Berlinale-Retrospektive: Rebellen und solche, die es werden wollen
Die „Sugar Cane Alley“, Zuckerrohrgasse, ist bloß ein ungepflasterter Trampelpfad. Er führt an den Holzhütten der schwarzen Arbeiterinnen und Arbeiter entlang, die auf den dahinterliegenden Zuckerrohrfeldern schuften. Euzhan Palcys gleichnamiger Film – im französischen Original heißt er „La Rue Cases-Nègres“ – spielt 1930 in einem abgelegenen Dorf auf der Karibikinsel Martinique, in dem jeder, der dort aufwächst, eigentlich keine Chance auf eine bessere Zukunft hat. Weil er die falsche Hautfarbe hat, und weil die Armut von Generation zu Generation weitervererbt wird.
Der Waisenjunge José (Garry Cadenat), der bei seiner Großmutter (Darling Légitimus) lebt, ist der erste aus seiner Familie, der Lesen und Schreiben gelernt hat. Im Dorfältesten Médouze hat José einen Ersatzvater gefunden, der ihm Geschichten aus Afrika erzählt, aus der Zeit, als dort die Weißen landeten und Menschen jagten, um sie „über das große Wasser“ zu verschleppen.
Zwar ist die Sklaverei abgeschafft, doch die Arbeitsbedingungen, unter denen die Nachfahren das Zuckerrohr für die weißen Großgrundbesitzer schneiden, sind noch immer genauso ausbeuterisch. Als José mit einem Stipendium fürs Gymnasium auf einem Schiff in die Hauptstadt Fort-de-France aufbricht, mischt sich Wehmut in die Euphorie, weil er die Welt seiner Herkunft verlassen muss.
„Sugar Cane Alley“ (1983) gehört zu den herausragenden Werken der Berlinale-Retrospektive, die unter dem Motto „Young at Heart“ dem Coming-of-Age-Film gewidmet ist. Nach der Science-Fiction-Retro von 2017 ist es die zweite Filmreihe, die sich mit einem Genre beschäftigt. Und erstmals wurden die 28 Filme statt von einem Kuratorenteam von Filmschaffenden ausgewählt, deren Biografien mit der Berlinale verknüpft sind. „Sugar Cane Alley“ hat die afroamerikanische Regisseurin Ava DuVernay ausgesucht.
Zu den jüngsten Helden der Reihe zählt der siebenjährige Joey (Richie Andrusco), der im Ausreißer-Film „Little Fugative“ (1953) einen Tag im Vergnügungspark von Coney Island verbringt, beinahe dokumentarisch begleitet von einer Handkamera. Ähnlich konsequent aus der Kinderperspektive gedreht ist „Grazuolé“ („The Beauty“, 1969) des litauischen Regisseurs Arunas Zebriunas, in dem eine Sechsjährige (Inga Mickytè) durch ihr Viertel in Vilnius stromert und sich mit einem Holocaust-Überlebenden anfreundet.
Natürlich fehlt es nicht an Klassikern des Rebellen-Kinos, vom Halbstarken-Drama „Rebel Without a Cause“ mit James Dean (1955) über Francis Ford Coppolas Jugendbandenfilm „Rumble Fish“ (1983) bis zum französischen Ghettokrimi „De bruit et de fureur“ („Sound and Fury“, 1988).
Aber es gibt auch unbekanntere Filme zu entdecken, etwa den iranischen „Kiseye Berendj“ („Bag of Rice“, 1996), in dem ein vierjähriges Mädchen und eine alte Frau beim Versuch, in Teheran einen Sack Reis zu kaufen, einige Abenteuer erleben.
Was aber hat die Komödie „Groundhog Day“ („Und täglich grüßt das Mumeltier“, 1993), den Nora Fingscheidt aussuchte, mit dem Groß- und Starkwerden zu tun? Da spielt Bill Murray einen bereits deutlich erwachsenen Wetteransager, der jeden Morgen im Hotelbett aufwacht, um immer wieder denselben Tag zu durchleben. Vielleicht ist das die Coming-of-Age-Erfahrung schlechthin: gefangen zu sein in der Langeweile des Immergleichen.
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