Filmfestival Rotterdam: Das Kino findet spielerische Wege aus der Pandemie

Die Freude darüber, das Festival endlich wieder in Präsenz abzuhalten, fand in beinahe jeder Moderation in der vergangenen Woche ihren Platz. Eine Euphorie, die man durchaus nachfühlen konnte, denn das Internationale Filmfestival Rotterdam (IFFR) hatte die Corona-Zeit besonders hart getroffen. Zwei Jahre lang musste es ins virtuelle Niemandsland verlegt werden – besonders schmerzhaft war es 2022, da kam das Ende noch knapp vor dem Festivalstart.

So gibt Vanja Kaludjercic, die das Festival erst seit 2021 leitet, in diesem Jahr im Grunde ihren Einstand. Ein „zweites“ Debüt, das vorab für einigen Wirbel gesorgt hatte: Denn vergangenes Jahr wurde die innere Organisationsstruktur des Großereignisses verändert, lang gediente Programmierer, die über Dekaden viel zum Renommee vom IFFR beigetragen hatten, verloren ohne Vorwarnung ihre Posten. Die Neuaufstellung wurde auch mit Verlusten durch die Pandemie gerechtfertigt; dass es gerade die Kuratorinnen und Kuratoren so vehement betraf, schlug im gut vernetzten Festivalbetrieb allerdings Wellen.

Indonesische Superheldin und islamischer Terror

Kaludjercic selbst verwies auf Diversität und Nachwuchssorgen. Insgesamt bleibt auch sie in Rotterdam einem Maximalismus treu, der noch so entlegene Sparten des Weltkinos in eine Balance mit gängigeren Festivalfilmen bringen will. Um sich ein Bild zu machen: Vom Blockbuster-Bombast „Sri Asih“ rund um die erste indonesische Superheldin, die ihre Vulkan-artig auflodernde Wut beherrschen lernen muss, bis zum allerersten Wettbewerbsbeitrag aus Kamerun, „Le spectre de Boko Haram“, reicht in Rotterdam der Bogen. Cyrielle Raingou erhielt für ihren Dokumentarfilm, der das Leben von Kindern und Jugendlichen in einem Flüchtlingscamp nach dem Wüten des Terrors zartfühlend impressionistisch vermisst, den diesjährigen Tiger Award.

Die Auswirkungen der Pandemie bleiben in Rotterdam dennoch gegenwärtig, nicht zuletzt im inhaltlichen Bereich. So gab es eine Fülle erzählerischer Planspiele zu sehen, die ihren Ursprung in Corona-Einschränkungen gar nicht erst zu verschleiern versuchten. „New Strains“ der New Yorker Artemis Shaw und Prashanth Kamalakanthan, mit dem Spezialpreis der Jury prämiert, war einer der vergnüglichsten davon. Das Regie-Duo tritt darin selbst vor die Kamera und verkörpert ein redefreudiges Paar, das sich nach dem Ausbruch einer Pandemie in einem mondän-abgewohnten Uptown-Apartment verschanzt.

Die Desinfektionsrituale sind ähnlich, doch nicht Covid-19 wütet in „New Strains“, sondern ein Virus, das die Betroffenen in einen arg infantilen Geisteszustand zurückversetzt. Der Gag daran ist, dass das Verhalten von Verliebten eine ähnliche Tendenz zur Regression kennzeichnet. In scheußlich schlierigen Hi-8-Videobildern gedreht, tritt der Film den Beweis an: Die gegensätzlichen Anlagen von Partnern werden in Ausnahmesituationen unweigerlich ins Hochneurotische verstärkt.

Alle Spielarten des Lockdown-Blues

Vom Lockdown-Blues unter Mumblecore-Bedingungen ist es im Grunde nur ein kleiner Schritt ins Horrorfach. Eingeschlossensein bringt in Guillaume Nicloux’ enttäuschend konventionellem „La Tour“ („Lockdown Tower“) rivalisierende tribalistische Gangs hervor, die sich in einem Sozialbau von Jahr zu Jahr energischer bekriegen. Der dänische Thriller „Superposition“ von Karoline Lyngbye funktioniert dagegen wie eine Spielart von Jordan Peeles „Wir“. In bewährter skandinavischer Tradition interessiert sich Lyngbye jedoch mehr für die Selbsttäuschungen und Lebenslügen ihrer Protagonistinnen.

Das perfekte Kopenhagener Mittelschichtsehepaar mit Jungen wirkt zuerst so flach wie aus einem Ikea-Katalog. Als es dann auf einem abgelegenen See aber ihr fast exaktes Ebenbild trifft, wird aus der wohltemperierten Selbsttherapie plötzlich Ernst. Nicht umsonst erinnert das erste, ins Vertikale gekippte Bild des Sees an einen Rohrschach-Test.

Der Dokumentarfilm „Endless Borders“ über einen Lehrer im Grenzland zwischen Iran und Afghanistan erhält eine Spezialpreis.
Der Dokumentarfilm „Endless Borders“ über einen Lehrer im Grenzland zwischen Iran und Afghanistan erhält eine Spezialpreis.
© Filmfestival Rotterdam

Das Publikum zeigte sich in Rotterdam solchen Spielformen des Autorenkinos gegenüber aufgeschlossen. Daneben findet man aber auch Platz für historische Entdeckungen. Die umfassendste Personalie galt in diesem Jahr der ungarischen Regisseurin Judit Elek, deren Schaffen nicht von den Verwerfungen der Zeitgeschichte ihres Landes zu trennen ist.

Elek gehörte in den späten 1950er-Jahren zur Riege einer jungen Filmgeneration, die, inspiriert von den filmischen Erneuerungsbewegungen anderer Länder, das unabhängige Béla Balázs Studio gründete. Wer das „wirkliche Leben“ im Realsozialismus zeigen wollte, stieß schnell auf Widerstand, doch Eleks auf weibliche Subjektivität ausgerichteter Dokumentarismus fand erstaunlich viel Freiraum. Zwei Filme entstanden in dem Bergarbeiterdorf Istenmezején in den 1970ern, in denen sie in Cinéma-Vérité-Manier die vorgezeichneten Wege junger Frauen hinterfragt, indem sie ihnen eine Stimme gewährt – keine Ehe mit 14 Jahren, keine Ausbildung ohne Zukunftschancen. In „A Commonplace Story“, der Fortsetzung von „On the Field of God in 1972-73“, spitzt sich diese zuerst noch leicht unterdrückte Verweigerungshaltung weiter zu.

Feministische Positionen aus Ungarn

Eleks Filme sind nicht einfach solidarisch, sie scheinen sich ihrem Gegenüber tatsächlich zu öffnen und perspektivisch anzuverwandeln. Schon ihr Spielfilmdebüt „The Lady From Constantinople“, mit dem sie 1969 nach Cannes eingeladen wurde, ist das sozialkritische und zugleich stilistisch überhöhte Porträt einer alleinstehenden, älteren Frau, die ihre geteilte Wohnung in Budapest gegen eine kleinere eintauschen muss – die Szene, in der die WG-Interessenten wie in einem Wimmelbild aufeinander stoßen, hat aufgrund der dynamischen Mise-en-Scène schon Godard und Truffaut verblüfft.

Als Tochter aus säkularem, jüdischem Haus hat sich Elek erst spät, dann aber umso nachhaltiger mit ihrer eigenen Herkunft und dem Antisemitismus befasst. Mit „Awakening“ verfilmt sie 1994 ihren frühen Roman über ein jüdisches Mädchen, das sich in den 1950er-Jahren in Budapest verträumt und filmverliebt durchschlägt – und so autonom wie andere ihrer Heldinnen. Ihren ersten Film, der sich dezidiert mit Antisemitismus beschäftigt, drehte sie schon fünf Jahre davor: „Memories of a River“ basiert auf einem Prozess gegen einen Juden aus dem Jahr 1882 in Tiszaeszlár.

In Rotterdam war die inzwischen 85-jährige Elek auch in Gesprächen zu Gast. Sie erzählte über Arbeitsbedingungen und die Rebellion der Nachkriegsgeneration gegen die starren patriarchalen Verhältnisse. Vor allem aber richtete sie Fragen ans Publikum zurück, denn sie sei aus Profession „neugierig“. Diese Idee der Herausforderung bis ins hohe Alter stand dem so oft mit dem Nachwuchs verbundenen Festival dieses Jahr besonders gut.

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