Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (75): Ukrainisches Familientreffen in Potsdam
16..10..2022
„ …und zusammen sind wir 18.“
„ Das kann doch nicht wahr sein! Bist du dir sicher? 18 Leute?“
„Also wenn ich richtig nachzähle, 19 – Seriosha, Lena, Tanja, Sascha …“
Meine Mutter gibt mir die ganze Liste durch. Ich bin beeindruckt, mir war zwar bewusst, dass unsere Familie in Berlin dieses Jahr wesentlich größer geworden ist, aber 19 Personen? Wow! Und da Alex, mein älterer Cousin, der seit vielen Jahren in Kalifornien lebt, gerade für ein paar Tage in Berlin ist, hat meine Mutter entschieden, es sei ein perfekter Grund, zusammenzukommen – am Sonntag, den 16. Oktober.
Ich konnte mir peinlicherweise nie Geburtstage merken, weiß aber, dass im Herbst ganz viele Gurzhys geboren sind. 2014 war ich auf einer kleinen ukrainischen Tour mit meiner Band, am 15. Oktober haben wir in Charkiw gespielt. Nicht mal ein voller Tag in der Heimatstadt, und trotzdem habe ich es zu zwei Geburtstagen geschafft! Nach dem Soundcheck feierten wir mit der Frau meines Onkels, am nächsten Morgen war mein jüngerer Cousin dran.
Sieben Jahre sind vergangen, mein Onkel und seine Frau sind inzwischen gestorben, in ihrer Wohnung sind nach dem Beschuss durch russische Raketen vor wenigen Wochen alle Fenster raus, der pompöse Klub Misto, wo wir mit RotFront und Zhadan & Sobaky aufgetreten sind, wurde beim gleichen Bombardement komplett zerstört. Der Familie meines Cousins ist es nach mehreren Wochen im Keller ihres Hochhauses gelungen, aus Charkiw zu fliehen. Seinen Geburtstag feiern wir dieses Jahr in Potsdam.
Meinen Vorschlag, ein gemütliches Restaurant in Berlin für unser Familientreffen zu finden, hatte die in Potsdam lebende Mutter kategorisch abgelehnt. Wir sind zu viele, meint sie, in den Restaurants ist es zu voll und zu laut und das Essen ist oft ungesund. Gut, dass sich ein passender Raum in Potsdam finden lässt.
Am frühen Sonntagnachmittag steigen mein Sohn und ich in die S-Bahn, wir haben beide zu tun. Boris hat zum Geburtstag mehrere dicke Bücher bekommen, eins davon hat er dabei, ich habe Dutzende Emails zu beantworten. In der ersten werde ich nach Empfehlungen gefragt – ein Bekannter sammelt Ideen für ein Fernsehmagazin, das sich seit einigen Monaten osteuropäischen Themen widmet.
Im Dezember bin ich nach Charkiw eingeladen
Ich finde eine Folge auf YouTube und schaue sie mir an. Hübsche junge Leute und graue Plattenbausiedlungen, eine Stimme berichtet im Hintergrund von der Faszination Sowjetunion im Westen. Ein russischer Fotograf zeigt seine Bilder von Protesten in russland und erzählt, nicht alle russen würden Putin unterstützen. Mein Warten auf einen ukrainischen Protagonisten hat nach sieben Minuten ein Ende.
Boris chattet mit meiner Nichte, sie und ihre Eltern sind bereits da, sie langweilt sich. Ich finde es toll, dass die beiden befreundet sind. Früher haben sie sich regelmäßig getroffen, als Boris in Charkiw war, seit einem halben Jahr aber ist Tanja auch Berlinerin.
Als wir endlich alle angekommen sind, passen wir kaum an den Tisch, der mit diversen Gerichten voll ist – jeder hat was mitgebracht. Ich habe meinen Espressokocher dabei und stelle mich nach dem Essen an den Herd, um Kaffee für alle zu machen.
Ich beobachte, wie unsere große Familie sich in kleine Gruppen aufteilt. Boris und Tanja finden ein Jenga-Spiel und bauen einen Holzturm. Er wird ziemlich hoch, es wird immer schwieriger, noch mehr Elemente darauf zu stapeln. „Stell Dir vor, da fliegt gleich eine russische Rakete, dann ist alles in einer Sekunde in Trümmern!“, sagt Tanja, beide lachen.
Als ich sage, dass ich eine Einladung aus Charkiw bekommen habe und im Dezember hinfahren möchte, sind alle ganz aufgeregt. Ich muss viele Fragen beantworten, erklären, was ich genau vorhabe und wo man mich unterbringen wird, der Ort muss sicher sein, möglichst mit einem Bunker in der Nähe. Alle wollen mitkommen. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann wäre es ein solches Treffen in der Heimatstadt. Ich hoffe, wir werden es alle bald erleben. Und darauf stoßen wir an.
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