Kriminalroman „Die Abfindung“ : Verbrechen ohne Leidenschaft
Im Französischen gibt es für Verbrechen, die in einem psychischen Ausnahmezustand begangen werden, den schönen Begriff „Crime passionnel“. Weil der Täter im Affekt die Kontrolle über sich verloren hatte, werden sie meist nur mit einer milden Strafe bedacht. Solche von plötzlichen Regungen von Zorn, Wut oder Angst ausgelösten Delikte werden in der deutschen Umgangssprache als Verbrechen aus Leidenschaft bezeichnet.
Auf genau solch ein Verbrechen steuert die Handlung von Yves Raveys Kriminalroman „Die Abfindung“ zu. Doch paradoxerweise ist dabei nichts von Gefühlen, schon gar nicht von Leidenschaften zu spüren.
Denn Raveys Held Jean Seghers erzählt in einem derartig verknappten Protokollstil von der prekären Lage, in die er geraten ist, dass man seinen Gemütszustand allenfalls indirekt erahnen kann. Er behauptet, alles im Griff zu haben, dabei entgleitet ihm sein Leben mehr und mehr.
Die Tankstelle, die Seghers an einer Bundesstraße im Osten Frankreichs betreibt, ist pleite, das Insolvenzverfahren läuft. Der Aufsteiger, der davon geträumt hatte, eines Tages eine lukrative Autobahntankstelle an der Autoroute du Soleil im Rhônetal übernehmen zu können („mein Name in Großbuchstaben am Eingang“), steht vor einem jähen Absturz und sieht sich von Bedrohungen umstellt.
Er zweifelt an der Treue seiner Ehefrau Remedios, fürchtet von deren altem Schulfreund Walden, der als Präsident des Handelsgerichts einen Teil seiner Schulden übernehmen will, über den Tisch gezogen zu werden, und führt mit Usman, dem Nachtwächter der Tankstelle, einen erbitterten Streit um dessen Abfindung.
Seghers beginnt, seiner Frau nachzustellen, eines Nachts beobachtet er, wie sie sich mit Usman am Tankstellentresen trifft. „Ich rührte mich nicht und sah zu, wie sie sich küssten und dann einander befummelten, und in diesem Augenblick stellte ich fest, dass Remedios mich nie so leidenschaftlich geliebt hatte.“ Schwer zu sagen, was ihn mehr kränkt: Dass seine Frau ihn betrügt oder dass sie ausgerechnet sein Auto zum Schauplatz ihrer Schäferstündchen macht.
Eifersucht kann wie ein wildes Tier sein, das einen Menschen anspringt und ihn kopflos Dinge tun lässt, die er später bereuen wird. Eifersucht hat viele blutige Tragödien ausgelöst, neben der Gier ist sie das häufigste Motiv für Morde, in der Wirklichkeit wie in der Literatur.
So bringt in James M. Cains Noir-Klassiker „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ ein Tramp einen Tankstellenbesitzer um, weil er sich in dessen Frau verliebt hat. Bei Raveys unterkühltem Protagonisten Seghers, ist es anders. Nichts fürchtet er so wie den Kontrollverlust, ihn versetzt die Eifersucht in einen Zustand höchster Konzentration.
Kaltblütig plant er ein „kriminelles Projekt“, dass er „Punkt für Punkt“ umsetzen will. Dazu gehört, dass er Usmans Frau bedrängt, seine Joggingtour auskundschaftet, ihn in Rage zu bringen versucht. Schließlich stellt er ihm in der Werkstatt eine Falle, bei der ein angeblich kaputtes Schweißgerät eine Rolle spielt.
Yves Ravey, der in Frankreich bereits ein Dutzend schlanke Romane veröffentlicht hat, ist ein Meister der Verdichtung. Schon in seinem Thriller „Ein Freund des Hauses“ über einen aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter war es ihm gelungen, mit wenigen Worten maximale Spannung zu erzeugen.
„Die Abfindung“ ist ein Kammerspiel, das nahezu ausschließlich in und an einer Tankstelle spielt. Man glaubt beinahe den Geruch von Benzin zu spüren, für die Explosion braucht es nur noch einen kleinen Funken.
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