Sonne geht unter, Feuer kommt
Es ist wird plötzlich überraschend still und besinnlich an diesem Abend bei der ersten von zwei Rammstein-Shows im Berliner Olympiastadion. Die Band hat sich gerade mit dem üblichen Flammenzauber als dem Beiwerk ihres Songs „Sonne“ mit einem „Danke“ verabschiedet, der Hauptteil des Konzerts ist vorbei, die Zugaben stehen an, und das Geschehen verlagert sich mitten ins Zentrum des Stadionrunds.
Hier steht nun eine kleine Bühne mit Klavier, auf der sich die Rammstein-Musiker einfinden, um mit ihrer Vorband, dem französischen Pianistinnen-Duo Jatekok, „Engel“ zu intonieren.
Das Publikum hält seine Smartphones in die Höhe, alle Lampen an, und zusammen mit der Band singt es „Erst wenn die Wolken schlafen gehen/kann man uns am Himmel sehen/Wir haben Angst und sind allein/Gott weiß, ich will kein Engel sein.“
Das ist zweifelsohne schön und versöhnt mit einer Show, die natürlich perfekt durchchoreografiert ist und keinen Raum für Spontanität lässt, keinen Überraschungsmoment bereithält. Bei einem Auftritt von Rammstein handelt es sich nun einmal bekanntermaßen um kein übliches Rockkonzert.
“Komm mit, reih dich ein!”
Das demonstriert schon die Ansage zu Beginn um kurz nach halb neun, da ist die Sonne über Berlin lange noch nicht untergegangen. Es gehe jetzt los, man möge doch bitte die Smartphones ausschalten und auf Aufnahmen verzichten. Ein gespielter Witz, klar. Denn genau daran halten sich die knapp 70.000 Zuschauerinnen und Zuschauer ganz und gar nicht. Wo, wenn nicht bei einem Rammstein-Konzert, kann man schönere Aufnahmen machen, beeindruckendere Videos drehen?
Nach dem beziehungsreichen Händel-Intro „Music for the Royal Fireworks“ geht es los, mit „Armee der Tristen“, dem Eröffnungssong des neuen Albums „Zeit“.
Es ist dies das Album, mit dem Till Lindemann und die Seinen sich die Zeit der Corona-Pandemie vertrieben haben, die Zeit, in der die Konzerte im Olympiastadion zweimal verschoben werden mussten. Die Band spielt mehrere Songs von „Zeit“.
Das Album ist die Klammer, die diese Show zusammenhält und nicht zuletzt insinuiert, dass es sich in der Zukunft womöglich ausgerammsteint hat: Mit „Adieu“ endet das Album, endet das Konzert, mit einem von Lindemann geröhrten „Die Zeit mit euch war schön“. Das mag für die vergangenen zwei Stunden gelten, könnte aber auch ein Ende andeuten.
Doch vorerst gilt es an diesem strahlend schönen, einem Rammstein-Auftritt eher Hohn sprechenden Frühsommerabend, das Publikum einzustimmen mit den notorischen, zackig-gedoppelten Metal-Riffs der Gitarristen Richard Kruspe und Paul Landers, den stumpfen Bass/Schlagzeug-Beats von Oliver Riedel und Christoph Schneider sowie den Lindemann-Zeilen „Komm mit/ Reih dich ein/Komm mit/ Im Gleichschritt“.
Einmal quer durchs Rammstein-Werk
Dieser Song ist eine Variation von Lindemanns Gedicht „Die Armee der traurigen Menschen“, das vom Glück des gemeinsamen Traurigseins erzählt. Davon kann hier keine Rede sein: Der Abend ist das pure Glück. Der Gleichtakt zwischen Publikum und Band ist unübersehbar, dafür braucht es keine Extraeinladung.
Das Publikum trägt größtenteils schwarz, in allen Abstufungen, kaum jemand, der nicht sein Rammstein-T-Shirt übergestreift hat. Von Beginn an klatscht es zeilensicher mit, so wie seinerzeit bei Heinz Schenk, Gott und Till Lindemann haben ihn selig.
Es geht einmal quer durch das Rammstein-Werk: Nach „Armee der Tristen“ folgt „Zickzack“, ebenfalls von „Zeit“, der Song über den Beautywahnsinn unserer Zeit. Darauf folgt „Links 2 3 4“, das Stück, mit dem Rammstein vor über zwanzig Jahren dem Vorwurf begegneten, eine rechte Band zu sein. Weiter geht es mit „Sehnsucht“, „Puppe“ oder „Heirate mich“, einem Song des 1996er-Debütalbums „Herzeleid“.
Mit der Dämmerung und einsetzende4 Dunkelheit werden auch die Feuereinlagen intensiver. Es steigen hier vor der Bühne die Feuerfontänen auf, es geht dort der Puppenwagen in Brand auf; auch Keyboarder Flake wird wieder mit einem Flammenwerfer beschossen. Rammstein-Repertoire.
Wie es sich für solcherart Budenzauber und Feuerbombast gehört, gehen die Feinheiten der Rollenprosa und die gezielten Provokationen dabei komplett unter, all das, was die Band seit ihrer Gründung Mitte der neunziger Jahre ausmacht.
Das „Deutschland“-Lied, das zum Skandal wurde wegen eines Clips, in dem die Bandmitglieder als KZ-Häftlinge zu sehen waren, wird von Kruspe zunächst als Techno-Version performt, dann erst kommt die Band. Im Anschluss sind vier schwarzweiß illuminierte Figuren streng nebeneinander stehend auf der Bühne zu sehen. Das könnte makaber sein, würde man es, so wie es ausschaut, nicht auch als Kraftwerk-Zitat verstehen können.
Es ist ein kalkuliertes Spiel, die Indifferenz bleibt Trumpf bei Rammstein – immer auf die Gefahr hin, gerade bei Live-Shows, in bloßen Quatsch abzudriften, in die Sinnentleerung: von dem seltsam kathedralenhaften Bühnenaufbau über die Sci-Fi-Kämpfer-Kluft von Lindemann und Co bis hin zu den drei Schlauchbooten. In diese steigen die Rammstein-Musiker nach dem „Engel“-Auftritt, um sich von den Händen des Publikums zurück zur Hauptbühne schippern zu lassen.
Ob es das nun war mit Rammstein, von wegen „Adieu“? Man kann sich das gar nicht vorstellen. So eine Show lässt sich eigentlich bis zum Sankt-Nimmerleinstag spielen, ohne neue Songs, sie ist schön konservierbar. Und welche Band kann schon einen Song wie „Sonne“ spielen mit Zeilen wie „Hier kommt die Sonne, sie ist der hellste Stern von allen“, wenn diese gerade untergegangen ist?