Glück in Zeiten des Krieges
Ein derart wirkungsmächtiges politisches Gedicht ist schon lange nicht mehr geschrieben worden. „Wir lebten glücklich während des Krieges“ („We Lived Happily During The War“), das in jeder Hinsicht verstörende Auftaktgedicht des bereits 2019 erschienenen Gedichtbuchs „Deaf Republic“ von Ilya Kaminsky, ist seit Wochen auf diversen Social Media- Kanälen präsent und gilt als das Gedicht der Stunde.
Es scheint, als sei plötzlich die poetische Zentralchiffre für die Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine gefunden. Aber handelt es sich wirklich um ein poetisches Identifikationsangebot für uns von der Realität des Krieges verschonte Beobachter des Geschehens? Die ersten Zeilen in diesem kompakten Versepos des amerikanisch-ukrainischen Autors scheinen die Situation des ohnmächtigen Protests zu markieren: „Und als sie die Häuser der anderen zerbombten / protestierten wir / aber nicht genug, wir waren dagegen, aber nicht genug.“
Hier werden zwei Perspektiven eröffnet: Es werden nicht nur die Territorien der mörderischen Kriege markiert, sondern auch die Positionen der Zuschauer des Kriegsgeschehens. Das Amerika, das im Eröffnungsgedicht „zugrunde geht“, ist ein Symbol für die kapitalistischen Gesellschaften des Westens, in denen sich selbst in Zeiten des Krieges das Glück behaglich einrichtet: „In der Straße des Geldes in der Stadt des Geldes im Land des Geldes / unserem großartigen Land des Geldes, lebten wir (vergib uns) / glücklich während des Krieges“.
Mit bitterer Ironie verweist Ilya Kaminsky auf die privilegierte Position der Zuschauer des Schreckens. Während anderswo gebombt und gemordet wird, genießen die nicht direkt von der Kriegsrealität Betroffenen weiter ihre unversehrte Lebenswelt.
Literarischer Neuanfang in der Fremde
Der 1977 im ukrainischen Odessa geborene Kaminsky ist in einer jüdischen Familie aufgewachsen und wurde als Kind aufgrund einer Mumps-Infektion schwerhörig. 1993 verließ er mit seiner Familie die Ukraine, da antisemitische Provokationen den jüdischen Bürgern Odessas immer mehr zusetzten. In Kalifornien wurde der Familie politisches Asyl gewährt, für Kaminsky wurde die Migration zu einem literarischen Neuanfang.
Ab 1994 schrieb er seine Gedichte in englischer Sprache. Bereits für seinen Band „Dancing in Odessa“ aus dem Jahr 2004 wurde Kaminsky in den USA als „furchterregend guter Dichter“ und Wahlverwandter von Joseph Brodsky und Adam Zagajewski gefeiert. Mit „Deaf Republic“ stieg er noch weiter auf im literarischen Ranking: So ist sein Poem unter anderem von der „New York Times“ zum „besten Buch des Jahres“ ausgerufen worden.
Es hat einige Zeit gedauert, bis sein Meisterstück „Deaf Republic“ auch in Deutschland seine elektrisierende Wirkung entfalten konnte. 2019 hat die Übersetzerin und Lyrikerin Dagmara Kraus einige Gedichte des „Deaf Republic“-Bandes für das „Versschmuggel“-Projekt des Berliner Hauses für Poesie übersetzt.
Die Pioniertat des Neuköllner Klak Verlags, der im gleichen Jahr Kaminskys Band „Tanzen in Odessa“ in der Übersetzung von Alexander Sitzmann vorlegte, fand jedoch kaum Resonanz.
Der Lyrikerin und Erzählerin Anja Kampmann ist es zu verdanken, dass nun endlich „Deaf Republic“ in einer sorgsamen deutschen Übertragung vorliegt, die das zyklisch gebaute, als eine Folge von Theaterszenen komponierte Poem nicht auf politische Eindeutigkeit verkürzt, sondern die Ambivalenzen und Doppelbödigkeiten der Verse bewahrt.
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Die „Republik der Taubheit“ führt uns mitten hinein in ein Szenario eines permanenten Kriegszustands. Auf dem Marktplatz der von einer feindlichen Macht besetzten fiktiven Stadt Vasenka inszenieren zwei Puppenspieler mitten im Ausnahmezustand ein kleines vergnügliches Figurentheater.
Sofort eilen die willigen Vollstrecker der Macht herbei, um die illegale Versammlung aufzulösen. Dabei wird ein gehörloser Junge von der Soldateska erschossen.
Mit nur wenigen Strichen wird hier das exemplarische Setting einer Okkupation skizziert. Im „ersten Akt“ spricht ein Kollektivsubjekt, ein Chor der großen Verweigerung. Die protestierenden Bürger verständigen sich nur noch in Gebärdensprache. Die schändliche Mordtat an dem gehörlosen Jungen zieht indes weitere Verbrechen nach sich. Auch die Puppenspielerin Sonya, die ein Mädchen zur Welt bringt, wird Opfer der Invasoren, ebenso ihr Mann Alfonso, der zunächst allein mit dem Neugeborenen zurückbleibt.
Was als die große Verweigerung gegen die Repression der Besatzer beginnt, schlägt im „zweiten Akt“ des Poems um in ein drastisches Partisanentum. Momma Galya, die Besitzerin der Puppenbühne, führt den Aufstand gegen die Besatzung an, sie lockt die Soldaten mit Liebesdiensten an, um sie dabei zu erwürgen. Gewalt erzeugt Gegengewalt, es bleibt kein Raum für Verständigung.
“Wir sehen zu. Sehen andere zusehen”
Zurück bleiben Traumata und Wunden, die nie heilen: „Unser Land ist eines, in dem ein Junge, der von der Polizei erschossen wird, stundenlang / auf dem Gehsteig liegt. / Wir sehen in seinem offenen Mund/ die Nacktheit / einer ganzen Nation. / Wir sehen zu. Sehen / andere zusehen.“
Die „Zeit des Friedens“, die am Ende ausgerufen wird, ist nur die Vorbereitung auf den nächsten tödlichen Schlag. Die Sprache und das Sprechen selbst fungieren als Herrschaftsinstrument und unterliegen einer rigiden Gewaltlogik: „Stille? / ist ein Stock, mit dem ich dich prügel, ich prügel dich mit einem Stock, / Stimme, prügel dich, / bis du sprichst, bis du / das Richtige sagst.“
Ilya Kaminsky hat rund zehn Jahre an seiner „Republik der Taubheit“ gearbeitet. Es sind Gedichte, die manchmal narrativ, dann wieder lakonisch und lapidar daherkommen, poetische Parabeln von Gewaltverhältnissen, die sich gerade in der Gegenwart des Ukraine-Krieges verdichten, aber auch die imperialistischen Traditionen des Westens meinen. Zwischen die Gedichte sind Zeichen der Gebärdensprache gesetzt, wie meditative Momente des Atemholens.
Die Hoffnung seiner Gedichte, so hat Kaminsky in einem Interview erklärt, bestehe darin, dem Leser Illusionen auszutreiben und ihm zu helfen, „seine eigene Komplizenschaft zu erkennen“. Seine Ästhetik des Widerstands verfügt über viele Falltüren.