Mit Dante und Danger Dan durch die Hölle
So sieht man sich wieder. Zwei Jahre lang konnte das Berliner Theatertreffen nur Digitalzauber veranstalten, jetzt haben wir wieder ein volles Festspielhaus. Die einen tragen Masken, die anderen sitzen mit offenem Visier. Vorfreude am Eröffnungsabend, der sich anlässt wie ein Familienfest. Bekannte Gesichter, erfrischte Gefühle.
Doch was soll diese irritierende Festspiel-Mail: „Behandeln Sie andere Besucher*innen, Festivalmitarbeiter*innen und Servicemitarbeiter*innen so, wie Sie selbst gerne behandelt werden möchten. Wichtig ist uns eine faire, höfliche und respektvolle Behandlung aller Beteiligten. Das Theatertreffen toleriert keine Diskriminierung von Menschen oder Gruppen aufgrund von Geschlecht, Ethnie, Religion, Herkunft, Hautfarbe, religiöser Überzeugung, Sexualität, Geschlechtsidentität, sozioökonomischer Klasse, Behinderung oder Alter.“
Predigt zu den Bekehrten
Sind Theater nicht „Orte der Freiheit“, wie Yvonne Büdenhölzer, die scheidende Leiterin des Theatertreffens, in ihrer Begrüßung betont? Und man fragt sich auch: Predigen wir nicht immerzu zu den Bekehrten auf einem solchen Festival? Sie sei sich des „enormen Privilegs“ bewusst, in dem wir hier leben und arbeiten, sagt Yvonne Büdenhölzer und erinnert an den Kulturvermittler Osman Kavala, der in der Türkei zu lebenslanger Haft unter verschärften Bedingungen verurteilt worden ist – für nichts. Vom Krieg in der Ukraine ist die Rede und von den Zweifeln, was Theater jetzt überhaupt sein kann. Es reflektiert, „was die Menschheit am Leben hält“, hofft Büdenhölzer.
Sie hat das Theatertreffen gut zehn Jahre lang geprägt, sieht es als „Diskursbeschleuniger“.
Wohin es Yvonne Büdenhölzer zieht, verrät sie nicht. Aber sie bekommt Riesenlob von ihrer Nachrednerin. Claudia Roth spricht auf dieser Bühne zum ersten Mal und legt mächtig los. Für die grüne Kulturstaatsministerin ist die Bühnenkunst „eine treibende Kraft demokratischer Streitkultur“, mehr noch: „Theater ist Grundnahrungsmittel“ und – höchste Auszeichnung aus dem Mund einer Politikerin – „systemrelevant“. Claudia Roth schaufelt jede Menge Emphase und Phrase ins Publikum. Das fühlt sich erst einmal gut an, lässt aber schnell in seiner Wirkung nach.
Ähnliches gilt für „Das neue Leben. Where do we go from here“, die Eröffnungsinszenierung vom Schauspielhaus Bochum. Eine Post-Lockdown-Arbeit, wie Regisseur Christopher Nübling bei der Preisübergabe erklärt. Man habe etwas machen wollen, das Trost spendet. Auf der bis auf ein paar seltsame Apparate leeren Bühne herrscht Probenstimmung. Die vier Akteure – William Cooper, Anna Drexler, Damian Rebgetz und Anne Rietmeijer – wissen noch nicht, was sie da wollen und sollen. Um die Liebe geht es, unerfüllte Liebe, um die Liebe in Gedanken.
Gefährliche Ohrwürmer
Dantes Gedichte an die ferne Beatrice geben dafür eine Art Leinwand und auch Rahmen. Das ist literarisch und auch zeitlich sehr weit gegriffen – und wird, erst zögernd und zunehmend selbstbewusst, mit Popsongs gekontert. Britney Spears, Meat Loaf, gefährliche Ohrwürmer, a cappella vorgetragen. Das Quartett wirkt wie Teenager, die sich in ein Bild verlieben, einen Starschnitt, mal trotzig, mal motzig, mit Charme, aber auch so harmlos und brav. Die Aufführung besteht aus Solonummern, aus Zuschauen und Abwarten und ran ans Mikrofon. Begleitet wird der Karaoke-Wettbewerb von einem selbstspielenden Klavier, das eigene Ideen hat.
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Vergil, so wird das Instrument genannt, ein netter Einfall, schließlich führt der römische Dichter den Pilger Dante durch Inferno und Purgatorio. Eine 700 Jahre alte Dichtung, die Trost spendet? Dantes Weltliteratur erzählt auch von der Pest. Man kann das, wie Boccaccio, der etwas später als Dante lebte, parallel zur Covid-Pandemie lesen. Trost wartet dort nicht. Erst recht nicht, wenn Dante wie ein älterer Kollege von Danger Dan gehandelt wird, der am Ende seine Reverenz bekommt („Ich hab ne gute Nachricht und ne schlechte auch“). Jede und jeder sucht für sich, bis auf eine Kussnummer – ist das die pandemische Vereinzelung („My loneliness is killing me“) oder einfach nur dünne Regie?
Volk singt, Monster kriecht
Die Hölle übersetzt sich in eine schwingende Lampe über den Kreisen am Boden, da schweigt das singende Völkchen und verwandelt sich in kriechende Monster, vor denen fürchtet sich niemand. Und dann doch noch eine überraschende Wendung: Eine verhüllte Gestalt erscheint. Es ist die tote Beatrice. Viviane De Muynck, die große Dame des europäischen Avantgardetheaters, tritt spät auf, aber wie! Sie hat den auch nicht mehr so jungen Leuten, die zu viele reden und zu wenig lieben, aus dem Schattenreich ein paar Dinge über das Leben sagen.
Der Text bleibt auch hier flach und allgemein. Aber es war eine Freude, Viviane De Muynck wiederzusehen. Und all die anderen in der langen Schlange am Ausschank.
Trost ist doch gut. Aber auch nichts gegen Wut! Und bitte nicht systemrelevant. Es ist besser, wenn das Theater sich gar nicht einspannen lässt. Erst dann kann es frei sein.