Schrecklich nette Nachbarn
Ein gutbürgerliches Haus in Rom, in der abendlichen Ruhe erklingt eine Klarinette. Mit quietschenden Reifen biegt ein Wagen um die Ecke, fährt schlingernd an parkenden Autos vorbei, erfasst eine Fußgängerin, rast in eine Glaswand und kommt im Erdgeschoss zum Stehen. Eine Frau blickt fassungslos von der Terrasse des zweiten Stocks auf das Heck herunter, das aus der Hauswand ragt.
Nach einer Schrecksekunde finden sich die Bewohner:innen auf der Straße ein. Die schwangere Monica aus dem ersten Stock wartete gerade auf ein Taxi in die Geburtsklinik. Sara und Lucio, bei denen das Auto jetzt im Arbeitszimmer steht, bringen noch schnell die Tochter in Sicherheit, bevor sie nach dem Fahrer sehen. Auch Dora und Vittorio, die Eltern des Unglücksfahrers, kommen dazu. Diese Hausgemeinschaft steht im Mittelpunkt von Nanni Morettis „Drei Etagen“.
Prägender Regisseur des italienischen Kinos
Mit einer Reihe von Komödien wurde Moretti Ende der 1980er Jahre zu einem der prägenden Regisseure des italienischen Kinos. „Liebes Tagebuch“, der 1994 in Cannes den Regiepreis gewann, führte drei Erzählstränge aus einem fiktiven Tagebuch Morettis zusammen.
2001 brachte der internationale Erfolg von „Das Zimmer meines Sohnes“ endgültig seinen Durchbruch als einer der Protagonisten des europäischen Autorenkinos. Das Drama um eine Familie, die bei einem Unfall den Sohn verliert und daran zerbricht, wurde unter anderem mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.
Bis „Liebes Tagebuch“ standen Morettis Filme noch für ein selbstironisches Porträt Italiens und der bürgerlichen Linken. Ende der Neunziger spielte zunehmend die italienische Politik unter Berlusconi eine Rolle in seine Filme – bis zu „Der Italiener“ von 2006, seiner Abrechnung mit Bella Italia. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat sich Morettis Themenfeld immer mehr ins Gesellschaftliche erweitert.
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In „Drei Etagen“ lassen die Beziehungsprobleme nicht lange auf sich warten. Nach der Verurteilung seines Sohnes bricht Vittorio, gespielt von Moretti selbst, den Kontakt ab und zwingt seine Frau Dora (Margherita Buy), sich zwischen ihm und dem Sohn zu entscheiden.
Auch in der Beziehung Monicas (Alba Rohrwacher) wächst die Entfremdung. Sara und Lucio wiederum überwerfen sich mit dem älteren Paar von gegenüber. Inmitten des Zerwürfnisses hat Lucio (Riccardo Scamarcio) Sex mit der minderjährigen Enkelin der Nachbarn und wird wegen Vergewaltigung angezeigt. Die dramatischen Handlungsstränge entwickeln die Subtilität einer Seifenoper.
Das Drehbuch verzichtet auf Beziehungskleinklein
Während in Eshkol Nevos Romanvorlage die Hausgemeinschaft noch als Mikrokosmos der Gesellschaft fungiert, verzichtet das Drehbuch, das Moretti mit Valia Santella und Federica Pontremoli geschrieben hat, auf den sozialen Kontext und beschränkt sich auf das Beziehungskleinklein. Mitteilungsbedürftige Männer, oft vom Regisseur selbst gespielt, gehören schon länger zum Markenzeichen seiner Komödien.
Diese Geschwätzigkeit wurde durch sein selbstreflexives Spiel mit Fiktion und Autobiographischem immer wieder gebrochen. Die wortreiche Kurzweiligkeit seiner früheren Filme ist seit „Habemus Papam“ von 2011 aber sukzessive einer prätentiösen Inszenierung gewichen, die allzu bedeutungsschwer und behäbig daherkommt.
In „Drei Etagen“ zeigt sich dies etwa, als Vittorio nach dem Kontaktabbruch die Ansage der Familie auf dem Anrufbeantworter löscht und emotional überwältigt neu einspricht. Der Film unterstreicht die Dramatik durch einen Zoom auf Morettis Gesicht, unterlegt mit Klaviermusik.
Die Szene ist typisch für die abgeschmackten Stilmittel seiner jüngeren Filme; auch sein Kameramann Michele D’Attanasio arbeitet fernsehtauglich mit nahen und mittleren Einstellungen, denen jeder Gestaltungswille abgeht.
Im italienischen Kino, wie es sich in den vergangenen Jahren auf internationalen Festivals präsentierte, zeichnen sich aktuell zwei größere Tendenzen ab. Einerseits eher traditionsbewusstes Handwerk wie zuletzt Paolo Sorrentinos autobiografisch gefärbte Netflix-Produktion „Die Hand Gottes“, die – sehr italienisch – neapolitanische Schauwerte, Fußballbegeisterung und Altherren-Erotik vereint.
[“Drei Etagen” läuft in den Kinos Delphi Lux, Filmtheater Friedrichshain, Babylon Kreuzberg, Il Kino, Sputnik (auch OmU).]
Dem gegenüber stehen die Arbeiten einer jüngeren Generation wie Alice Rohrwachers märchenhaftes Sozialdrama „Glücklich wie Lazzaro“ oder Pietro Marcellos Faschismusparabel „Martin Eden“. Filme, die ausgehend von sozialen Realitäten überraschende Formen finden und in der Fiktionalisierung auch Filmgeschichte neu reflektieren. (Luca Guadagnino könnte man im weitesten Sinne ebenfalls zu dieser Gruppe hinzuzählen.) Nicht zufällig verbindet diese Regisseur:innen, dass sie über ihre Filmographien hinweg zwischen Fiktion und Dokumentarischem wechseln.
Sie haben in den vergangenen Jahren auf Festivals ein lange dominantes italienisches Kino abgelöst, das inzwischen wie ein Relikt wirkt und seine Geschichten formal einfallslos heruntererzählt. Moretti ist heute der prominenteste Vertreter dieses Kinos ohne Eigenschaften.
Wohlfühlbilder statt Welthaltigkeit
Der Habitus von „Drei Etagen“ wirkt saturiert, er bespielt die emotionale Klaviatur mit ausgeleuchteten Wohlfühlbildern – statt mit Welthaltigkeit. Dieses Missverständnis von Arthouse hält sich im italienischen Film beharrlich und existiert parallel zu den Rohrwachers, Marcellos und Brüdern D’Innocenzo, die mit „Bad Tales“ in Berlin 2020 den Drehbuchpreis gewannen.
Morettis Erfolge in den 2000er Jahren hätten ihm den Freiraum geboten, neue Perspektiven für einen selbstironischen Blick auf das bürgerliche Italien zu finden, andere Stimmen zu integrieren. Stattdessen hat er sich für immer konventionellere Zugänge entschieden. Und zudem eine gesellschaftliche Haltung, die frühe Arbeiten noch auszeichnete, aus seinem Kino verbannt – bis die Filme irgendwann austauschbar wurden. „Drei Etagen“ steht beispielhaft für dieses ästhetische Mittelmaß.