Mein alter Kiez in Charkiw, menschenleer
11. März 2022
Überall in meiner Wohnung liegen kleine Zettel herum. Stichworte, zwei bis drei Sätze, Geschichten, die ich nicht vergessen möchte.
Vor einer Woche rief mich eine klassische Musikerin an, die in den ersten Tagen der Kriegseskalation eilig Russland verlassen hat. Sie erzählte von ihrem letzten Konzert mit dem russischen Orchester am Tag davor. „Wir mussten spielen“, sagt sie. „Verstehst du, wir mussten! Und als wir auf der Bühne saßen“ – es waren über 100 Musiker – „haben alle geheult“.
Hey Taras, alles Gute zum Geburtstag!
Während sich manche Intellektuelle Sorgen um die russische Kultur machen, wird in der Ukraine am 9. März der Geburtstag von Taras Schewtschenko gefeiert. Der ukrainische Nationaldichter ist im Westen leider (noch!) nicht so bekannt ist wie zum Beispiel Puschkin. Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren der Vergangenheit bleibt Schewtschenko auch heute aktuell.
[Alle aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]
Vor allem, wenn es um den Kampf der Ukrainer für ihre Unabhängigkeit geht. Oft nennt man ihn einfach nur Taras, und alle wissen Bescheid. Wenn man „Hey Taras, herzlichste Glückwünsche zum Geburtstag, Alter!“ liest, versteht jeder sofort, dass es nicht um irgendeinen Facebook-Freund geht, sondern um einen Dichter, der bereits seit 161 Jahren tot ist. Um den Taras machen sich meine Landsleute keine Sorgen. Er ist mit 47 Jahren gestorben, aber seine Poesie lebt.
Eine ältere Verwandte von mir, die wie ich aus Charkiw stammt und seit den neunziger Jahren in Deutschland lebt, fragt, ob es okay sei, in den sozialen Medien die Bilder der toten russischen Soldaten mit Herzchen zu versehen. Wenn sie über die Freude, die sie in solchen Momenten spürt, nachdenkt, wird sie traurig, sagt sie. Ich hatte eigentlich jahrelang den Eindruck, dass sie sich für die Ukraine gar nicht mehr interessierte.
Lesen Sie hier die anderen Teile von Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch:
Ich will sie nicht fragen, welche Nachrichten sie liest, was sie alles mitbekommt. Ob sie schon Fotos von den halbzerstörten Häusern und verbrannten Autos in ihrer Straße gesehen hat. Gestern schickte mir ein Bekannter, der in Charkiw geblieben ist, Bilder, die er beim Spaziergang in „meinem“ Kiez gemacht hat. Mein Weg zur Schule…rechts zwei Kindergärten, links die fünfstöckige Häuser, wo meine Klassenkameraden lebten. Kostia hier, dritter Stock, Maxim im Nachbarhaus, im fünften. Eigentlich sind es Farbfotos, aber sie wirken schwarz-weiß. Nein, schwarz-grau. Und darauf sind keine Menschen zu sehen. Kein einziger.
Noch im Sommer tranken die Menschen Tonic Espresso
„Kyiv Daily“ ist eine Webseite, die Ausgehtipps für die Bewohner und Gäste der ukrainischen Hauptstadt zusammenfasst. Als mein Berliner Freund Wladimir Kaminer und ich im vergangenem Jahr in Kiew auf der Buchmesse zu Besuch waren, hat uns Vika Fedorina, die Chefredakteurin von „Kyiv Daily“ hinter der Open Air Bühne im Hof des Kultur- und Museumskomplexes Mystetskyi Arsenal interviewt. Wladimirs letztes Buch wurde ins Ukrainische übersetzt und bei der Messe feierlich präsentiert, es war ein heißer sonniger Tag, man kaufte Bücher und trank Tonic Espresso, den It-Drink des Sommers 2021. Wolodymyr Selenskyj war da, aber auch sein Vorgänger, Petro Poroschenko.
Bis vor zwei Wochen fing jeder Tag auf „Kyiv Daily“ an mit „Guten Morgen! Wo kann man heute in Kiew hingehen?“. Inzwischen ist dieser Satz mit einem „nicht“ ergänzt worden. „Wo kann man heute in Kiew nicht hingehen“…Wie alle anderen auch bekomme ich gerade so viele Grausamkeiten und Schreckliches mit. Aber mich bringt ausgerechnet dieser so einfache, ganz neutrale Satz zum Heulen.