Geschichten aus einem viereckigen Plastikkasten
Ich will noch zur Abschlussgala des Wettbewerbs, aber meine Waschmaschine piept drei Mal. EFO heißt der Fehler, der mir blinkend anzeigt, dass es teuer wird. Özcan, der Waschmaschinen-Reparateur meines Vertrauens, kommt gleich vorbei – ich bin schließlich ein treuer Kunde. Er wirft einen kurzen Blick auf das ihm gut bekannte Gerät: „Herr Ide, da kannst du nix mehr machen.“ Aber er habe da ein Angebot für mich einziges Problem: „Es gilt nur heute“.
Langsam bin ich durcheinander mit den Tagen. Seit Donnerstag ist die Berlinale nur noch fürs Publikum frei. Die Stars bleiben zu Hause, selbst wenn sie kein Corona haben. Für mich ändert das nichts: Ich sehe morgens Filme, ich sehe abends Filme, ich sehe nachts Filme. Dazwischen schreibe ich. Hole mir neue Karten zwei Tage im Voraus – alles klappt elektronisch einwandfrei. Ich mache Corona-Tests. Ich hole mir Corona-Test-Bändchen. Trinke Kaffee zwischendurch. Treffe Menschen zwischendurch. Mein Leben ist ein langer Film. Nur ohne Abschlussgala.
„Herr Ide, du musst mir helfen.“ Özcan hat aus seinem Laden um die Ecke eine neue Waschmaschine geholt – elektronisch einwandfrei, gebraucht, ein Jahr Garantie, „da kannst du nix falsch machen“. Ich gucke in meinen Kleiderschrank: kaum noch frische Hemden und Socken. Und die Berlinale geht noch ein paar Tage. „Okay, 450 Euro, weil du’s bist, Herr Ide.“ Als im Berlinale-Palast gerade die Gala beginnt, schleppen wir das Ding die Treppen hoch. Oben frag ich ihn, wann er das letzte Mal im Kino war. Özcan kann sich nicht erinnern. Auch bei ihm verschwimmen die Tage. „Ist heut’ Freitag? Dann muss ich noch zu einem Kunden.“
Kaputte Menschen kann man nicht austauschen
Langsam verschwimmen meine Augen. Ich sehe Schicksale auf viereckigen Leinwänden. Ich schreibe Schicksale in einen viereckigen Plastikkasten. Und schicke sie weg, elektronisch einwandfrei. Damit die Geschichten bei uns bleiben. Manche sind uns eigentlich ganz nah. Wir müssen nur hinsehen.
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Im Kino treffen sich wieder Menschen. Sie lachen, hoffen, weinen. Es ist ein schönes, fast vergessenes Gefühl, mit anderen Menschen über Menschen nachzudenken. Es ist ein schlimmes, fast vergessenes Gefühl, anderen Menschen beim Leiden zuzusehen. Zum Beispiel wenn Filme im Krieg spielen. Oder in Familien, in denen nicht nur die Waschmaschine kaputt ist. Eine Frau muss ihr Baby im Krieg gebären, die Soldaten haben gerade ihren Mann und ihren Bruder erschossen.
Die bisherigen Berlinale-Kolumnen von Robert Ide:
Sie krampft sich mit Wehen auf dem Sofa zusammen, das ihr noch geblieben ist, hinter sich ein Loch in ihrem Haus – Kriegseinschlag. Es ist eine dramatische Szene im überdramatischen Film „Klondike“. Er spielt in der Ost-Ukraine, wo Sonnenblumenfelder verdorren und Menschen ausgemergelt werden von russischen Separatisten, die sogar Zivilflugzeuge abschießen in ihrem Krieg gegen Europa mitten in Europa. Tote landen in den Feldern.
Ein Junge lässt einen Drachen steigen. Mit seiner älteren Schwester spielt er im Schutt eines alten Bergwerks, ihr Elternhaus wurde ausgebombt. Der Vater starb dabei. Die Kinder sammeln in den Ruinen Altmetall, kochen schon selbst. Damit sie durchkommen in der Ost-Ukraine. Auch der Jugendfilm „Terykony“ spielt in dem Land, das die russischen Separatisten destabilisieren, um Europa zu destabilisieren. Ein langsamer, trauriger Film. Er zeigt das Leben nach dem Sterben, nur zwei Länder weiter von uns.
Özcan verabschiedet sich: „Mach’s gut, Herr Ide, bis zum nächsten Mal.“ Bis dahin hat er nur zwei Wünsche: „Dass Corona bald vorbei ist. Und dass Frieden bleibt.“ Eine kaputte Waschmaschine kann man austauschen. Kaputt gemachte Menschen nicht.