Themis berät künftig auch bei MeToo-Fällen in der Musikbranche
Marilyn Manson, R. Kelly, Ryan Adams: MeToo-Fälle haben längst auch die Musikwelt erschüttert. Im Sommer gab es erstmals größere Debatten über sexuelle Übergriffe und strukturelle Probleme in der deutschen Musikbranche – spezifisch im Deutschrap. Die zwei großen deutschen Musikverbände sind jetzt einen Schritt gegangen, um diese Probleme anzugehen.
Ab dem 1. Januar 2022 werden der Bundesverband Musikindustrie (BVMI) und der Verband unabhängiger Musikunternehmer*innen (VUT) dem Trägerkreis der Vertrauensstelle Themis angehören. Beschäftigten wird es möglich sein, sich an die unabhängige und überbetriebliche Vertrauensstelle zu wenden, um sich juristisch und psychologisch beraten zu lassen.
Das Thema nicht unter den Tisch fallen lassen
„Wir wollen eine Lücke schließen, die bisher offen war“, sagt Florian Drücke, Vorstandsvorsitzender des BVMI dem Tagesspiegel. „Sexuelle Belästigung ist ein gesellschaftliches, systemisches Problem.“ Die Musikbranche wolle einen Beitrag leisten, dieses zu bekämpfen. Ähnlich äußert sich Birte Wiemann, Vorstandsvorsitzende des VUT.
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„Ich hätte sehr gerne, dass sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt in der Musikbranche kein Thema ist“, so Wiemann. „Das ist es aber, wie im Rest der Gesellschaft auch.“ Man wolle mit der Zusammenarbeit mit Themis nun ein Statement setzen. „Wir können nicht auf der einen Seite in Mentoring-Programmen am Empowerment von Frauen arbeiten, und diese andere Seite unter den Tisch fallen lassen.“
Deutschrap-MeToo war ein Katalysator
Im Juni hatte das Model Nika Irani dem Rapper Samr Vergewaltigung vorgeworfen und so eine Debatte über sexuelle Gewalt und Männlichkeitsbilder in der Deutschrapsszene ausgelöst. Auf dem Instagram-Account Deutschrap-MeToo haben sich zahlreiche junge Frauen anonym gemeldet, um ihre Erfahrungen mit Rappern zu schildern, von beleidigenden Sprüchen bis hin zur Vergewaltigung. „Mit MeToo im Deutschrap wurde noch einmal deutlich, dass auch unsere Branche vor dieser Problematik nicht gefeit ist“, so Wiemann. Sowohl sie als auch Drücke betonen, dass die Debatte nicht der einzige Faktor war.
Themis wurde 2018 von Brancheneinrichtungen der Theater- Film- und Fernsehbranche als Reaktion auf die MeTooBewegung gegründet, mit finanzieller Unterstützung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Zuletzt war Themis in den Schlagzeilen, weil die Beratungsstelle bei den MeTooVorwürfen gegen den Volksbühnen-Intendanten Klaus Dörr eine wichtige Rolle spielte.
Bereits zu Beginn der Tätigkeit gab es Gespräche darüber, ob die Musikbranche Teil von Themis werden soll. In diesem Sommer kam es dann erneut zu Gesprächen, durch die Vermittlung der MaLisa-Stiftung von Maria und Elisabeth Furtwängler. Ende November stellten die Musikverbände ihren Aufnahmeantrag. Ab Februar wird eine weitere Teilzeitkraft mit Erfahrung in der Musikbranche für Themis als Beraterin arbeiten, finanziert von den Verbänden.
Beraterinnen arbeiten am Limit
Florian Drücke sieht die Kommunikation mit den verschiedenen Teilsektoren der Branche – vom Livesektor, über Labels bis hin zu Verlagen und dem Vertrieb oft als schwierig an. „Wir dürfen keine toten Winkel zulassen“, sagt er. „Denn dann kann viel Leid passieren.“ Die Zusammenarbeit mit Themis bedeutet auch mehr Transparenz – was für das Image der Musikbranche nicht zwingend förderlich sein könnte. Drücke ist sich dessen bewusst. Es gehe um die Fragen, wo die Probleme liegen, wie sich die Teilbranchen unterscheiden, wie viele Fälle es überhaupt gibt. „Wir stellen uns der Problematik“, sagt Drücke.
Bisher konnten sich Betroffene der Musikbranche nur an betriebseigene Anlaufstellen geben – wenn es die überhaupt gab. Bei Themis ist die Beratung anonym möglich, was eine niedrigere Hemmschwelle bedeutet. „Insbesondere die Freiberuflichen trauen sich oft nicht, sich zu beschweren, aus Angst, den Job zu verlieren,“ sagt Eva Hubert, Vorständin der Themis. Bis Ende September hat es allein 184 Neufälle und 423 Beratungsgespräche gegeben.
Die Beraterinnen würden am Limit arbeiten, so Hubert – auch wegen der seelischen Belastung. „Allein dieses Jahr haben sich schon elf Vergewaltigungsfälle gemeldet.“ 85 Prozent der Betroffenen seien Frauen. In 60 Prozent gehe es um verbale oder digitale Belästigung, in knapp 40 Prozent um körperliche Übergriffe. Zu Beschwerdeschreiben komme es dabei nur selten. „Die Furcht ist zu groß, dass es berufliche Nachteile geben wird.“
Auch die Chancengleichheit hängt damit zusammen
Damit zusammen hängt mangelnde Chancengleichheit, ein großes Problem der Musikindustrie. Bis vor kurzem war etwa im Vorstand des BVMI keine Frau vertreten. Der Keychange-Studie zufolge, die im September auf dem Reeperbahn Festival vorgestellt wurde, schätzen nur 15 Prozent der Frauen im deutschen Musikbusiness die Chancen von Männern und Frauen als gleich ein.
„Natürlich gibt es auch viele Männer, die etwas verändern wollen“, sagt Eva Hubert. „Aber weil fast alle Frauen im Laufe ihres Lebens selbst Belästigung erlebt haben, haben sie ein anderes Bewusstsein, eine andere Sensibilität.“ Deshalb sei es wichtig, dass auch Frauen auf Führungsebene mitmischen.
Auch Florian Drücke ist sich dessen bewusst und betont, dass die Branche sich verändern werde. Mit Themis ist nun ein weiteres Instrument hinzugekommen, um zu überprüfen, ob diese Versprechen eingehalten werden.