Geld oder Leben
Er hat es tatsächlich geschafft. In seiner letzten Saison als Intendant der Komischen Oper hat Barrie Kosky ein eigentlich uninszenierbares Stück bezwungen, Kurt Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, geschrieben auf ein Libretto von Bertolt Brecht und 1930 skandalumwittert in Leipzig uraufgeführt.
Viele, sehr viele seiner Regiekollegen sind schon an der Herausforderung gescheitert, für dieses Schlüsselwerk des Musiktheaters des 20. Jahrhunderts eine schlüssige szenische Lösung zu finden.
Fatty, der Prokurist, flieht vor der Polizei
Weil sie die Stoßrichtung des Stücks missverstanden haben, wie Kosky jetzt mit seiner Deutung vor Augen führt. Die Handlung geht so: Fatty, der Prokurist, Dreieinigkeitsmoses und die Witwe Begbick sind auf der Flucht vor der Polizei, als ihr Auto irgendwo im Nirgendwo von Alabama liegenbleibt. Daraufhin beschließen sie kurzerhand, hier eine Stadt zu gründen, in der es einzig ums Vergnügen gehen soll.
Mahagonny lockt Goldgräber aus Alaska an, die ihren mühsam erworbenen Wohlstand genießen wollen. Unter ihnen ist Jim Mahoney, dem es aber nicht genügt, rauchend in den Abendhimmel zu schauen und die Eintracht zu genießen, die hier zwischen den Menschen herrscht.
Er ruft die Anarchie aus: Ab sofort darf ungehemmt gefressen, gesoffen und gehurt werden. Dann aber begeht Jim das einzige Kapitalverbrechen, das der Kapitalismus kennt: Er hat kein Geld mehr – und wird als Zechpreller zum Tode verurteilt.
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Schrill und krachledern wird Weills Werk normalerweise auf die Bühne gebracht, als Zerrbild des american way of life mit jeder Menge meist missratenem Mummenschanz. Barrie Kosky geht einen anderen Weg: Er lässt alles weg, das Groteske wie auch die Ausstattungsorgie, und fokussiert sich ganz auf die biblischen Konnotationen, die er bei Brecht findet.
Alttestamentarisch ist für ihn der erste Akt, ein neues Sodom und Gomorra, mit Hurrikane und Taifun als Plagen, den zweiten Akt sieht er als Variante der Passionsgeschichte, wenn Jim von jenen verleugnet wird, die ihm nahestehen, und kurz vor seinem Tod ein christusgleiches „mich dürstet“ ausspricht.
Kosky betont, dass Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ zeitgleich entstanden ist. Schon als Teenager haben ihn beide Stücke berührt, als Parabeln, als tiefernstes Moralitäten-Theater. Düster und hoffnungslos ist für ihn die „Mahagonny“- Handlung, in der es nicht einen einzigen, durchgehend positiv gezeichneten Charakter gibt. Und darum spielt die Handlung bei ihm auch weitgehend im Schatten einer gigantischen Neonröhre, die sich aus dem Schnürboden herabsenkt.
Die Spielfläche bleibt öd und leer, nur ein Tortenstück der Bühne wird überhaupt sichtbar. Szenenbildner und Lichtdesigner Klaus Grünberg grenzt sie durch hohe Wände ab, die zunächst von Vorhängen bedeckt sind und sich später als gigantische Spiegel herausstellen.
Es sind die Flächen, in denen sich die Gesellschaft spiegelt. Denn die Stadt Mahagonny, postuliert Barrie Kosky, das sind die Menschen selbst. Die hier ihre Bedürfnisse zu befriedigen suchen.
Eine Hauptrolle spielt der Chor
Der Chor spielt also die Hauptrolle, und bis auf Jim Mahoney unterscheidet sich auch keiner der Solisten und Solistinnen von der Masse: Zuerst steckt Kostümbildner Klaus Bruns sie in Alltagsklamotten, nachdem Mahagonny zu einer Art Las Vegas geworden ist, tragen alle schwarzglitzernde Paillettenanzüge.
Am Ende wird jede Choristin und jeder Chorist einmal auf den verurteilten Jim einstechen. Ein schwer auszuhaltendes Bild für den Sieg des Egoismus über die Idee gesellschaftlicher Solidarität.
Erschütternd ist Barrie Koskys radikale Inszenierung, und auch anstrengend. Getragen wird sie von dem einmaligen Gesangskollektiv der Komischen Oper, das hier bewusst „Chorsolisten“ genannt wird (musikalische Einstudierung: David Cavelius) und von einem ebenso starken Protagonistenteam.
[Wieder live am 9., 14., 17., 21., 23. und 29. Oktober, sowie vier Wochen als Stream auf der Website der Komischen Oper.]
Nadine Weissmann trumpft als resolute Witwe Begbick auf, Jens Larsen ist gnadenlos als Dreieinigkeitsmoses, Nadja Mchantafs Jenny hat ihr Herz erfolgreich verödet, um dem Broterwerb der Prostitution nachgehen zu können.
Zwischen diesen lebenden Toten wütet Allan Clayton, erhebt seine helle, schneidend-heldische Tenorstimme, um sein Recht auf ein wenig Glück einzufordern. Dieser Jim Mahoney will einen Sinn im Dasein finden – und bleibt auf der Strecke.
Sogar wenn Bertolt Brecht im Finale Gott höchstselbst einschreiten lässt, kommt es – anders als in der „Dreigroschenoper“ – nicht zum Happyend, nicht einmal zu einem ironischen. Die Einwohner von Mahagonny schleudern den himmlischen Forderungen ein knappes „Nein“ entgegen.
Koskys interpretatorische Meisterschaft
Barrie Kosky zeigt sich mit „Mahagonny“ im Zenit seiner interpretatorischen Meisterschaft – denn ihm gelingt nicht nur eine Inszenierung von höchster Intensität, sondern auch noch das Kunststück, dabei der Musik genug Raum zu lassen. Neben dem Zwölftöner Schönberg waren ja auch die Spätromantiker Richard Strauss und Erich-Wolfgang Korngold Weills Zeitgenossen, und all die Operettenkomponisten, deren Schlager-Witz und Jazz-Verve Kosky in seinen Berliner Intendantenjahren so mitreißend gefeiert hat.
All diese ästhetischen Strömungen fließen in der „Mahagonny“-Partitur zusammen, und das Orchester der Komischen Oper, das stilistisch keinen Grenzen kennt, reißt ein faszinierendes Klangpanorama des frühen 20. Jahrhunderts auf. Unter dem befeuernden Dirigat von Generalmusikdirektor Ainars Rubikis funkelt diese Musik in tausend Facetten – ein Lichtblick bei diesem düsteren Blick auf die Verhältnisse, die leider so sind.