Die Probenzeit ist aus den Fugen

Ein erstaunliches, eigentlich schier unmögliches Buch. Der Dramatiker und Schauspieler Klaus Pohl hat einen Theater-Roman geschrieben, der die Proben zu einer „Hamlet“-Inszenierung wachruft, die Ende der 1990er Jahre von Straßburg bis Wien, Zürich und Berlin vielfach gefeiert wurde. Pohl war als Hamlets Freund Horatio selbst mit von der Partie, aber etliche andere Protagonisten wie Otto Sander als König, Ulrich Wildgruber als Polonius oder Hermann Lause als Totengräber hat längst das Zeitliche gesegnet. Wie auch den großen Regisseur Peter Zadek, den Bühnenbildner Wilfried Minks und manche Zuschauer ebenso.

Man könnte hier denken: Das ist ein Stoff allenfalls für treue Abonnenten von „Theater heute“. Oder Theater gestern. Zumal zum Background der Backstage-Geschichte noch gehört, dass Peter Zadek den „Hamlet“ bereits 1977 in einer wilden, wüsten Hallen-Inszenierung in Bochum-Hamme inszeniert hatte, mit Wildgruber damals in der Titelrolle und der hier gleichfalls wieder mitwirkenden Eva Mattes als Mutter des Shakespeare-Prinzen. Das steckt voller Anspielungen, von denen der Buchtitel „Sein oder Nichtsein“ noch die bekannteste ist. Aber mit Ernst Lubitschs gleichnamiger Theaterfilmkomödie, die neben „Hamlet“ auch die Weltkriegstragödie in Warschau spiegelte, hat Klaus Pohls Roman erstmal nur den hintergründigen Humor gemein.

Die Welt als Bühne

Doch was heißt: nur!? Denn ohne ihren mal zarten, mal bisschen gemeinen, mal völlig theaterverrückten Witz wäre diese sonderbar luftige Dokufiktion allzu leicht abgestürzt. Als närrisches Fachbuch, als rührend romantischer Aufguss des Genres Künstlerroman oder der Alle-Welt-ist-Bühne-Metapher.

Ist es aber nicht. Die Akteure treffen sich im Februar 1999 in Straßburg, was irgendwie damit zusammenhängt, dass der in Paris lebende, aber als Direktor der Wiener Festwochen tätige Zadek-Kollege Luc Bondy (leider auch schon tot) diesen „Hamlet“ aus multinationalen Geldtöpfen finanzieren ließ. Mit Peter Zadeks Allstar-Ensemble. Mit Angela Winkler als androgynem Hamlet à la Sarah Bernhardt und Asta Nielsen, aber eben auch à la Zadek. Das war der besondere Coup.

Peter Zadeks Wahnsinn und Genie, seine mimosenhafte Empfindlichkeit, seine Wutausbrüche und sein einzigartiges Geschick, Akteure jeden Geschlechts mal als Darling, mal wie Dreck zu behandeln und dann doch zu trösten und sie zu eben noch kaum vorstellbaren Gesten des Menschenmöglichen zu bringen, dieses Wunder gehört mit zu Pohls vielen Geschichten und Anekdoten.

Zu den plötzlich messerscharfen und dabei schonungslos zärtlichen Bildern einer werdenden Aufführung. Auch wer sich nicht oder nur wenig fürs Theater interessiert, bekommt hier mit, dass Kunst etwas sein kann, das aus Sphären kommt, die mit Alltagsmoral, politischer Korrektheit und rein logischem Kalkül fast nichts mehr zu tun haben.

Gut sein langweilt

Einer von Zadeks Lieblingssprüchen: „Liebling, zeig mir in deiner Rolle nicht, wie gut du bist. Das kenn ich schon, das langweilt mich.“ Gegen das oberflächenhaft polierte Virtuosentum setzte er auf eine abgründigere Menschendarstellung. „Besser mal schlecht als perfekt. Das Perfekte ist tot.“ Dieser Halbroman wird so auch zum facettenhaft beiläufigen, erzählerischen Kunstessay. Beruhend auf über tausend Seiten, die Klaus Pohl immerzu auf und nach den „Hamlet“-Proben in seine Kladden notiert hat – im Bewusstsein: „Es sind die letzten 200 Tage dieses Jahrtausends, das auch das Jahrtausend Shakespeares gewesen ist. (…) Ich schreibe ein Buch gegen das Vergessen. Vieles überspringe ich. Manches erfinde ich. Die Zeit ist zeitlos.“

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Zu den vielen untergründigen Pointen gehört, dass der Kampf zwischen Erinnern und Vergessen natürlich ein nur allzumenschlicher Teil des Theaters ist. Angela Winkler will Hamlet, Shakespeare, Zadek immer wieder entfliehen, weil sie ihren Mammuttext nicht gut memorieren kann (bis ein soufflierender Knopf im Ohr hilft). Pohl, der Angela jedem Probenmorgen eine Rose schenkt und zugleich in der Schilderung aller Ticks und Tricks der Diva auch eine unverblümte Liebeserklärung macht, er lässt die beinahe Vertragsbrüchige sagen: „Ich habe mich ernsthaft um Skrupellosigkeit bemüht – ich kann’s einfach nicht.“ Später wird Angela Winklers Hamlet dann zu ihrem strahlenden Triumph.

Das zuvor jedoch von allen Stürmen des Theaterwahnsinns und den komischen Katastrophen der Technik (zusammenkrachende Bühnenbilder, erstickende Masken, nicht „entwackelte“ Regietische) gebeutelte Schiff möchte auch Ulrich Wildgruber am liebsten verlassen. Nicht nur sein Bochumer Hamlet als irräugiger Wildling hängt ihm dabei noch nach. Er denkt längst an ganz anderen Abreisen. Spielt nicht nur mit dem Sein oder Nichtsein.

Die Brücke über das Wasser

So wird Uli W. zur eigentlichen Hauptfigur. Schon seine Anfahrt nach Straßburg ist zu Beginn des Buchs eine Annäherung auf Abstand. Wildgruber wohnt als einziger Akteur auf der anderen, deutschen Rheinseite. Er braucht morgens, nach den in Straßburgs Altstadtkneipen durchzechten und durchfabulierten Nächten, die Brücke über das Wasser. Für ihn bedeutet der Rhein jedoch zugleich die Ahnung des Stroms, der im Mythos die Lebenden von den ewigen Schatten trennt.

[„Sein oder Nichtsein“, erschienen bei Galiani Berlin, 288 Seiten, 23 Euro. Buchpremiere am 21. September um 20.30 Uhr in der Schaubühne mit Klaus Pohl, Angela Winkler, Joachim Meyerhoff und Helge Malchow.]

Von dieser Todessehnsucht haben ihn auch sein Freund Otto Sander („Ich bin lieber ein stadtbekannter Trinker als ein anonymer Alkoholiker“) und seine letzte Lebensgefährtin Martina Gedeck nicht abbringen können. Am Ende des Romans und des Jahrtausends, noch während der umjubelten „Hamlet“-Gastspiele ist dieser wunderbar verrückte, gebildete, wortwitzige Schauspielkünstler an der Küste von Sylt ins Wasser gegangen. Wildgruber suchte, nach allen Abgründen und Untiefen, das endlos Weite. Als Nichtschwimmer. Gut zwanzig Jahre danach ist nicht nur er mit Klaus Pohls Theaterromanfantasie wieder zu einem geisterhaft schönen Leben erweckt worden.