Im Höllenreich der Sinne
Ödipus ist der Stoff der Stunde, der Mythos zur Pandemie. Die Pest wütet in Theben, und wer ist Schuld? Eben jener Mensch, der alle Schuld von sich weist. Bis er begreift, dass er das Unheil selber verursacht hat. Er hat es verbockt.
Gleich drei Ödipus-Premieren erlebte Berlin am Wochenende, zum Saisonauftakt im zweiten Corona- Jahr. Neben der Sophokles-Hölderlin-Version am Deutschen Theater bringt die Komische Oper George Enescus „Œdipe“ von 1936 heraus, als erste Premiere mit voller Orchesterbesetzung nach bald 18 Monaten, freut sich Intendant Barrie Kosky.
Auf dem Parkdeck der Deutschen Oper tummelt sich derweil die Family des Anti-Ödipus von Mark-Anthony Turnages „Greek“, der Londoner Underground-Variante nach dem Theaterstück von Steven Berkoff, entstanden gegen Ende der Thatcher-Ära. Hier die Tragödie, da die Farce, hier Indoor, da Open Air.
Gemeinsam ist den Werken eine ungemein beredte, sinnlich-expressive, von Schrecken, Wut, Gewalt und expliziter Erotik gezeichnete Musik. Man fragt sich, warum die Stücke nicht öfter aufgeführt werden, so unweigerlich ziehen sie einen in Bann. Bei Turnages Kammerensemble mit wenigen Streichern, viel Blech und Percussion bleckt die Musik ihre Zähne, bis zum Exzess mit martialischem Schlagwerk und wuchtigen Clustern. Aber sie kann auch stocken, streicheln, wehmütig werden, mit entrückter Celesta und Liebesbeschwörungen.
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So wie Turnage das gesamte Stück mit einem rhythmischen Schicksalsmotiv versetzt, grundiert der Rumäne Enescu seinen „Œdipe“ mit einem Seufzermotiv, einer kleinen Abwärtssekund, die zu Beginn in den Kontrabässen erklingt. Mit dem ersten Ton ist er da, der Schmerz, die Klage, der Wahn. Der großartige Chor der Thebaner im zweiten Rang der Komischen Oper sorgt dafür, dass auch das Publikum sich akustisch umzingelt wähnt. „Horreur, horreur“, das Grauen, raunen sie. Hier entkommt keiner.
Enescus Musik entfesselt die Sinne. Sie hebt an mit der archaischen Anmutung von Kirchentonarten, fügt Vierteltöne ein, Schreie und schrilles Gelächter, entfaltet verführerische Debussy’sche Klangnetze. Und so wie Yi-Chen Lin am Pult des Parkdecks noch bei den wildesten Accelerandi nicht nur für Verve, sondern auch für Klarheit sorgt, trägt auch Chefdirigent Ainars Rubikis bei der auf zwei Stunden komprimierten Strichfassung in der Behrenstraße satte Farben auf, schlägt Schneisen durch die irrlichternde, sich unentwegt wandelnde Partitur. Verrückt, wie allein die singende Säge das Aufwärtsglissando der Sphinx (lasziv: Katarina Bradic) in himmlische Höhen fortsetzt.
Großartig: Leigh Melrose in der Titelpartie an der Komischen Oper
Die Bilder dagegen sind denkbar verschieden. An der Komischen Oper hat Rufus Didwiszus einen silbrigen, rautenförmigen Bühnenkasten samt Ritualbecken gebaut. Das Schicksal hängt als Neonröhrenbündel über der Szene, das sich zum Lattenrost entrollt, als es endgültig zuschlägt. Blut fließt reichlich, die hellgewandeten Thebaner sudeln sich in der Pestbrühe.
Rot-weiß-schwarzer Minimalismus: Regisseur Evgeny Titov setzt umso mehr auf das Personendrama, mit Leigh Melrose in der Titelrolle, der diesen an seinem biografischen Dilemma zerbrechenden Mann mit atemberaubendem Nuancenreichtum verkörpert. Glissandi und Sprechgesang, Feixen und Trotzen, Hybris, Schuldkomplex, Schmerzensschreie – es ist eine unerhörte Partie, die der ganz in Weiß gekleidete Brite absolviert. Eine gequälte Kreatur, mit gleichsam blutbesudelter Stimme.
An der Bismarckstraße tragen sie ganz im Gegenteil grellbunte Perücken vor Pappkulissen und Comicprospekt, klettern auf Plastikstühle, sprechen Cockney, futtern Popcorn, singen auch mal mit Lolli im Mund. Die Sphinxen wedeln zur Rätselfrage mit rosa Plastik-Krakenarmen herum. Regisseurin Pinar Karabulut hat eine explosiv-unterhaltsame Mischung aus Pop-Art, Triadischem Ballett und queerem Voguing angerührt, mit Dean Murphy als Eddy/ Ödipus.
Der Bariton legt mit kräftig-wendigem Organ ebenso komödiantisches Talent an den Tag wie seine Mitstreiter:innen. Heidi Stober als Adoptiv-Mum wechselt mühelos die Register vom Schnippischen ins Dämonische, Irene Roberts als Ehefrau-Mum gibt überzeugend die erotisierende Tragödin, Seth Caricos Spektrum als Dad reicht vom herrischem Gebaren bis zur dementen Verwirrung. Eine changierende, chargierende, groteske Truppe, die dem Publikum gleichwohl anrührende, der Karikatur abgetrotzte intime Momente beschert.
Die Ödipus-Musik ist infiziert mit immergleichen Schicksals- und Seufzermotiven
Ödipus, der seinen Vater tötet, seine Mutter heiratet und Kinder mit ihr hat: Bei Enescu schaut der Held schon der eigenen Geburt zu. Bereits da war er verflucht – das Baby, ein Homunkulus mit zappelnden Beinchen, trägt Melrose‘ Gesichtszüge. Gleichzeitig, und das ist die Raffinesse von Titovs Lesart, sieht auch die Sphinx aus wie er. Wohin Ödipus sich auch wendet, er begegnet immer sich selbst.
Da ist es nur logisch, dass die Mutter seiner Kinder (frivol, sublim: Karolina Gumos als Jocaste) auch seine eigene Mutter ist. Trotzdem will er nicht hören, was Tirésias ihm am Ende des dritten Akts zu sagen hat. Jens Larsen als blinder Seher tritt mit immenser Autorität auf, gerade weil seine Stimme vor der Wahrheit schier versagt und zu ersticken droht.
[“Greek“ auf dem Parkdeck der Deutschen Oper: wieder am 3., 4., 5., 7. und 8. September. „Œdipe“ in der Komischen Oper: wieder am 2.,7., 11. und 26. September.]
Hier der insistierende Rhythmus, da der Sekundseufzer, immer und immer wieder. Die Musik ist infiziert, gegen das Schickalsvirus gibt es kein Heilmittel. Der Ödipus-Mythos spielt in einer vormodernen Zeit, erzählt von Menschen ohne freien Willen. Turnages rotzig-rüde London-Version endet mit der Selbstermächtigung des Ödipus: Mir die Augen ausstechen? Nein, bin ich halt mit meiner Mutter zusammen, es geht doch nichts über die Liebe. Die Götter haben ausgedient.
Bei George Enescu findet der Aufklärer Ödipus, dessen gute Absichten sich gegen ihn wenden, erst seinen Frieden, nachdem er mit seiner Tochter Antigone (anmutig und doch entschieden: Mirka Wagner) viele Jahre durch die Welt irrte. Lieber als der lebenslange Bußgang ist einem natürlich der freie Wille, aber mal ehrlich: Wie viele Menschen machen davon Gebrauch, wenn es drauf ankommt? Enescus „Œdipe“ endet mit einer Dur-Terz. Und der Donner hört nicht auf zu grollen.