Trans Athletin darf nicht zu den Paralympics
Es ist das Jahr 1980. Die sieben Jahre alte Valentina heißt damals noch Fabrizio und kleidet sich als Junge. Auf dem Fernseher daheim in Neapel flimmern die Olympischen Spiele aus Moskau: Das Finale der Männer über 200 Meter zieht Valentina ganz in seinen Bann. Pietro Mennea, ein Läufer aus Süditalien, hatte kurz zuvor den Weltrekord über diese Strecke gebrochen. Doch nun liegt er nach den ersten hundert Metern zurück und es scheint unmöglich, dass er dieses Rennen noch gewinnt – bis Mennea plötzlich beschleunigt und Meter für Meter aufholt: Zwei Hundertstelsekunden vor dem Briten Alan Wells überfliegt er die Ziellinie und reißt jubelnd seine Arme in die Höhe. Valentina steht einfach nur da und schaut zu: „Ich applaudierte nicht“, erinnert sie sich genau. „Ich war so beeindruckt, dass mir die Worte fehlten.“
Das kleine Kind aus Neapel träumt fortan, einmal selbst im italienischen Trikot ein olympisches Rennen zu laufen. In der Vorstellung ist es dabei allerdings kein Mann wie Mennea – „ich wollte eine Medaille holen als Frau“, sagt Valentina Petrillo. Es vergehen über 40 Jahre, ehe sich die sehbeeinträchtigte Sportlerin 2017 offen zu ihrer Transsexualität bekennt und eine Hormontherapie beginnt.
In Tokio sollte ihr Traum in den kommenden beiden Wochen wahr werden – sie erfüllte die Voraussetzungen für einen Start bei den Paralympics. Doch der italienische Verband verwehrte ihr die Teilnahme. Die Geschichte von Valentina Petrillo ist eine über Konflikte, Durchhaltevermögen und eine unzerstörbare Liebe zum Laufen.
Die Siegesszene von Mennea hat Valentina verzaubert, immer wieder schaut sie sich die Aufnahmen davon an. Es ist seine Disziplin, die sie fasziniert. Seine Herkunft, mit der sie sich identifiziert. Als Petrillo Anfang Juli bei einem Videogespräch mit dem Tagesspiegel von Pietro Mennea erzählt, beginnt sie zu lächeln, ihre Hände gestikulieren. Sie führt sie ans Herz, versucht zu vermitteln, wie sehr sein Lauf sie berührt habe. Ihre blonden Haare sind schulterlang, die Augen mit schwarzem Eyeliner umrahmt.
Mit 15 sagt man ihr, sie laufe wie eine Frau
Die 48-Jährige erzählt, wie sie als Kind selbst anfangen will zu laufen, doch in Neapel nicht die Möglichkeit dazu bekommt. Immer wieder sucht sie im Telefonbuch die Nummern verschiedener Leichtathletikvereine raus. Doch sie traut sich nicht, ihren Eltern davon zu erzählen. Sie sei in einem schwierigen Viertel aufgewachsen, sagt sie, ihre Familie hätte sich nicht leisten können, dass sie Mitglied eines Vereins werde. Auch sonst scheint sich alles gegen den Sport zu stellen: Mit 14 Jahren verliert sie nach einer degenerativen Augenkrankheit den Großteil ihrer Sicht. Mit 15 schafft sie es zu einem Aufnahmetest für die Leichtathletik und wird abgelehnt. Der Grund: Sie laufe wie eine Frau.
Erst mit 20 Jahren, als sie nach Bologna geht und Informatik studiert, beginnt sie ernsthaft mit dem Laufen: „Erst dort hatte ich das erste Mal echte Laufschuhe“, erzählt Petrillo. Im Training merkt sie schnell, dass sie besser ist als die meisten. Es ist in diesen Jahren, in denen ihr Trainer sagt: „Wenn du mehr trainierst, kannst du an den paralympischen Spielen in Atlanta teilnehmen.“ Doch sie will nicht, kann nicht noch mehr trainieren. Es stürzt sie in eine Krise. Zu unwohl fühlt sie sich als Mann.
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Ganz aufgeben kann sie das Laufen aber nicht, dafür liebt Petrillo den Sport zu sehr. Im Jahr 2015 steigt sie noch einmal voll ein und gewinnt elf italienische Meisterschaften bei den Männern. Doch es arbeitet weiter in ihr. Unentwegt. Schon bei ihrer Kommunion hat Valentina davon geträumt, ein weißes Kleid statt eines dunklen Anzuges zu tragen. Oft habe sie sich später im Bad versteckt und Frauenkleider getragen, erzählt sie dem Magazin Outsports. Es sind solche Momente, die sie immer wieder einholen, bis sie es laut ausspricht: „Ich bin eine Frau im Körper eines Mannes.“ Ihr letztes Rennen als Fabrizio läuft sie am sechsten Oktober 2018.
Durch die Hormontherapie ist sie eine halbe Sekunde langsamer
Bereits ein Jahr zuvor offenbart sich Petrillo ihrer Familie, ihren Freunden, später auch ihrem Trainer. Sie verliert fast alle Wegbegleiter aus dieser Zeit. Fünf Jahre ist sie verheiratet gewesen und hat ein Kind. Obwohl ihre Frau sie akzeptiert und unterstützt, ist die Transition zu viel für die Ehe, die beiden stehen heute kurz vor der Scheidung. Auch ihr Trainer akzeptiert sie nicht länger. Es folgt eine unerträgliche Zeit für Valentina Petrillo. Allein der Sport lässt sie nicht komplett verzweifeln: „Laufen ist das Leben für mich. Was mir das Leben an Augenlicht genommen hat, steckt jetzt in meinen Beinen.“
Durch die Hormontherapie ist sie auf 100 Metern anfangs über eine halbe Sekunde langsamer als zuvor. Die Richtlinien des Internationalen Paralympischen Komitees erfüllt sie am 11. September 2020. Als Frau darf antreten, heißt es, wer mindestens ein Jahr in Hormontherapie ist, für mehr als zwölf Monate einen Testosteronspiegel unter 10 Nanomol vorweist und eine Erklärung seiner Geschlechtsidentität abgibt. Bei den italienischen Para-Meisterschaften startet Valentina Petrillo das erste Mal als Frau unter Frauen und gewinnt Gold über 100, 200 und 400 Meter.
Ihr Triumph sorgt bei den Konkurrentinnen für Verstörung. Eine Petition mit Unterschriften von 24 Läuferinnen macht die Runde: Trans Sportlerinnen soll der Start in Frauenwettbewerben verboten werden. Valentina Petrillo versteht, dass die Frauen sich fragen, „ob das so fair sein kann, wenn eine Person, die von Weitem das Erscheinungsbild eines Mannes hat, bei einem Wettkampf an ihnen vorbeizieht“. Doch sie sagt auch: „Ich halte mich an alle Vorgaben der Verbände. Ich fühle mich in meiner Wettkampfklasse genau richtig.“
Im Hotelzimmer fängt sie an zu weinen
Im vergangenen Januar wird Petrillo bei einer Meisterschaft im Masterbereich Zweite. Das Team der Drittplatzierten dreht sich bei der Siegerehrung aus Protest demonstrativ weg. Petrillo bekommt dies aufgrund ihrer Sehbehinderung nicht mit, erfährt erst später durch Erzählungen davon. Sie probiere Anfeindungen in positive Energie zu verwandeln, sagt sie, Kritik als Antrieb zu nehmen. Dies gelingt ihr mit einigem Erfolg: Seit ihrer Transition hat die Para-Sprinterin neun Titel gewonnen. Doch wenn sie nach einem Wettkampf allein im Hotelzimmer zur Ruhe kommen will, verletzen sie all die Worte. Dann weint sie, weil sie die Reaktion ihrer Konkurrentinnen nicht für richtig hält.
In diesen Momenten denkt sie wieder an Pietro Mennea, seinen Lauf in Moskau, wie er aufholt und gewinnt. „Die Entschlossenheit, die Mennea damals gezeigt hat, hat er uns allen beigebracht“, erzählt sie Outsports: „So fühle ich mich, wenn ich laufe. Dieselbe Entschlossenheit und denselben Antrieb.“
Und so macht sie weiter, trainiert, gewinnt. Im Frühjahr läuft sie die Zeiten, die zur Qualifikation für die Paralympics reichen. Wie alle anderen Para-Athletinnen und -Athleten fiebert sie am Sommerbeginn auf die Nominierung des Italienischen Behindertensportverbands hin, die offizielle Fahrkarte nach Tokio. Fünf Plätze stehen für Laufwettbewerbe bereit, drei davon für Frauen. Doch auf der Liste, die am 8. Juli veröffentlicht wird, fehlt der Name von Valentina Petrillo.
Sie ist die erste paralympische trans Athletin aus Italien
Woran das liegt, weiß sie nicht genau. Vielleicht daran, mutmaßt sie, dass sie wegen ihrer Transition nicht an der Para-Leichtathletik-WM 2019 teilnehmen konnte und ihr dadurch wichtige Platzierungen fehlen. Eine Anfrage des Tagesspiegels ließ der italienische Verband unbeantwortet.
„Ich fühle mich schrecklich“, schreibt Petrillo dieser Zeitung vor einigen Tagen. Auch die allerletzte Hoffnung auf eine Nachnominierung ist mittlerweile dahin. „Seit einer Woche weiß ich, dass ich nicht teilnehmen kann. Ich fühle mich, als würde ich in ein schwarzes Loch fallen. Ich hatte eine großartige Saison, aber das Bedauern über die Nichtteilnahme an den Spielen bleibt.“
Doch auch wenn der Traum von Valentina Petrillo nicht in Erfüllung geht: Sie ist die erste paralympische trans Athletin, die das Trikot ihres Landes trägt. Sie hat den Sport daran erinnert, dass er noch immer daran scheitert, faire Richtlinien für eine vollständige Inklusion zu finden. Auch wenn ihr Weg so kurz vor Tokio endet – sie wird nicht stehenbleiben, sondern weiterlaufen. So viel ist gewiss.
Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.