Tartuffe oder Das Schwein der Weisen
Die Bedingungen für Freilufttheater könnten besser sein. Unfreundlicher Pfingstregen tröpfelt auf den Vorplatz des Deutschen Theaters, es weht auch böig, aber wenn die vergangenen Monate eins gelehrt haben, dann doch wohl: Maske hoch, Ansprüche runter.
Immerhin steht eine echte Premiere an, und das noch nicht mal im Rahmen eines Kulturöffnungspilotprojekts für Getestete (auch damit geht’s ja bald wieder los), sondern als reguläres Spielplanangebot, für das man nur Name, Anschrift und Geburtsdatum hinterlegen, während der Vorstellung eine Maske tragen und einen Meter Abstand zu den Sitznachbar:innen halten muss. Endlich ein Hauch von Normalität, wenngleich ein kühler.
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Ulrich Khuon, der Intendant des DT, spricht in seiner Begrüßung von „unbändiger Freude“, man habe genau für diesen Tag der Spielerlaubnis geprobt, sich fit gehalten (so ähnlich wie eine Fußballmannschaft in Corona-Quarantäne vermutlich) und sei deswegen jetzt auf den Punkt startbereit. Er gibt noch eine meteorologische Prognose für die kommenden zwei Stunden ab („Zwei Regenphasen à fünf Minuten“) und bittet darum, keine „individuellen Entscheidungen zu treffen“ (wenn das die Querdenker hören!).
Gemeint ist aber nur, nicht auf eigene Faust vor dem Regen unters nächste Dach zu flüchten, sondern sich im Falle extremerer Witterung von geschultem Personal ins Trockene geleiten zu lassen. Der Fall tritt aber nicht ein.
Ein „analoges Abenteuer-Ereignis“
Nein, während drinnen die Vorstellung von Sebastian Hartmanns „Der Zauberberg“ live fürs Theatertreffen gestreamt wird, kann draußen unterbrechungsfrei abschnurren, was Khuon ein „analoges Abenteuer-Ereignis“ nennt. Okay, „Ereignis“ ist ein großes Wort. Aber eine hoch unterhaltsame Open-Air-Inszenierung legt Regisseur Jan Bosse vor – mit dem Stück „Tartuffe oder Das Schwein der Weisen“ von Autor und Musiker Peter Licht.
Der hat ein Faible und ein Talent dafür, Molière-Texte durch den Diskurswolf zu drehen und zu Sprachsternstunden der Gesellschaftskritik umzudichten. 2010 hat Bosse schon Peter Lichts „Der Geizige“ inszeniert, damals noch am Gorki Theater unter Armin Petras. Jetzt also „Tartuffe“, oder, im Jargon des Stücks: „Tüffi“.
Vom Originaltext hat der Dramatiker wenig bis gar nichts übrig gelassen, geblieben ist das Grundgerüst einer großbürgerlich-dekadenten Schwulst-Society, die sich in die gepflegte Sinnleere schraubt. In deren Mitte thront Familienoberhaupt Orgi, den Felix Goeser auf vergoldetem Hochsitz als Sonnenkönig mit schwerer Existenzmigräne gibt.
„Stress ist zu vermeiden, sonst wird zum Beispiel der Darm löchrig“, sinniert Orgi in schrill-barocker Narrentracht (Kostüme: Kathrin Plath). Oder auch: „Wenn es am schönsten ist, ist es am schönsten“. Überhaupt ergeht sich die PeterLicht-Belegschaft nach einem dadaistischen Rein-raus-Eingangsmonolog durch „Herr Frau Pernelle“ (Regine Zimmermann) ausführlich in profan-philosophischen Betrachtungen, zum Beispiel des Geilen und des Ungeilen. „Den Dingen wohnt eine Tendenz zur Engeilisierung inne“, heißt es einmal, und wer würde das bestreiten wollen?
Der Song „Penis als Chance“ – echtes ESC-Material
Ewig könnte darüber fabuliert werden, wer oder was „in den Bereich des Geilen hinein schwappt“ (und passagenweise fühlt sich das Lichtsche Mäandern auch unendlich an). Aber dann tritt Tüffi auf den Plan, bei Molière jener betrügerische Frömmler, dem Orgon verfallen ist. Hier: ein Schwein. Ein Guru, der anfangs nur Grunzlaute von sich gibt (oder auch: „rätoromanische Gutturalgeräusche“). Und der für sich in Anspruch nimmt, wahlweise mit Orgis Frau Elmire (Natali Seelig) oder Tochter Mariane (neu im DT-Ensemble: Kotbong Yang) zu „kontextualisieren“, was dann doch Sex meint. Tüffi – mit schweinischem Swing von Božidar Kocevski gespielt – ist ein zweifelhafter Phallus-Prophet, der über die „Penisgeneigtheit der Welt“ referiert und zur Live-Musik von Carolina Bigge den Song „Penis als Chance“ anstimmt. Echtes ESC-Material.
Eigentlich geht’s Tüffi aber nur ums Abkassieren. Als Leiter der „Tüffi School of Ausstülpung und inneren Frieden“ bittet er die ganze Orgi-Sippe – inklusive Sohn Damis (Tamer Tahan), Schwager Cléante (Moritz Grove) und Zofe Dorine (Linn Reusse) – zur Kasse für vulgär-esoterische Lifestyle-Workshops. Große Enttäuschung: das Schwein ist auch nur eine ganz gewöhnliche Sau.
Bosse nutzt as DT im Rücken als Schau- und Spielplatz
Peter Lichts „Tartuffe“ – in der Basler Version von Regisseurin Claudia Bauer 2019 zum Theatertreffen eingeladen – ist in seiner elliptischen Wortwut und Kalauerseligkeit gar nicht leicht zu fassen. Jan Bosse schafft es aber, die Textkaskaden mit einem tollen Ensemble zu verdichten und andockfähig zu machen. Gesteigerten Drive gewinnt die Farce auch dadurch, dass Bosse sich nicht mit reinem Vorplatztheater zufrieden gibt, sondern das DT im Rücken als Schau- und Spielplatz nutzt (Bühne: Stéphane Laimé). Das Theater ist Orgis Palast, den Tüffi als Hausbesetzer in Beschlag genommen hat, es gibt Leitern zum Balkon und falsche Fassadenteile, die lustvoll eingeschlagen werden (eine Bosse-Hommage an die eigene „Robinson Crusoe“-Arbeit in Wien, wo Joachim Meyerhoff das Burgtheater demontieren durfte).
Am Ende stehen viel Applaus, Erleichterung über den ausgebliebenen Wolkenbruch und die Erkenntnis, dass dem Theater zum Glück nicht die Tendenz zur Entgeilisierung innewohnt.
– nächste Vorstellungen: 24., 25., 28. – 30.5., 20 Uhr (alle ausverkauft)