Die Nationalmannschaft kennt keine Gnade

Die erste Frage an Martin Stocklasa kam von der Zeitung „Liechtensteiner Vaterland“, und sie schien von tiefer patriotischer Empfindung durchdrungen. Es ging um die frühe Rote Karte im WM-Qualifikationsspiel der Liechtensteiner gegen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Ob er das Gefühl habe, dass die Partie ohne diesen Platzverweis anders ausgegangen wäre, wurde Stocklasa, Liechtensteins Nationaltrainer, nach der 0:9-Niederlage seines Teams gefragt.

Dass die Gäste nach dem bösen Foul ihres Innenverteidigers Jens Hofer gegen Leon Goretzka acht Neuntel des Spiels in Unterzahl bestreiten mussten, hat ihnen die Sache ganz sicher nicht erleichtert. Trotzdem wäre es eine recht gewagte These, dass es für die Liechtensteiner bei numerischem Gleichstand für ein Unentschieden oder gar einen Sieg hätte reichen können. „Wenn Deutschland wirklich Gas gibt, wird es relativ schnell zweistellig“, antwortete Stocklasa. „Wir hatten unser Highlight im September.“

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Im September, gleich nach der Sommerpause, siegten die Liechtensteiner gewissermaßen 0:2 gegen das große Deutschland. In Wirklichkeit war es eine Niederlage, aber eine derart knappe, dass sie den Underdog in einem bisher ungekannten Hochgefühl hinterließ. „Das kann uns keiner mehr nehmen“, sagte Stocklasa.

Dieses 0:2 in St. Gallen war zugleich das erste Spiel der deutschen Nationalmannschaft unter ihrem neuen Bundestrainer Hansi Flick. Seitdem hat sich einiges getan. In den folgenden fünf Spielen sind fünf weitere Sieg hinzugekommen, bei einer Tordifferenz von 27:1. Nie zuvor in der 113-jährigen Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes, ist ein Reichs- respektive Bundestrainer besser gestartet.

Gegen Liechtenstein wäre sogar ein weiterer Rekord möglich gewesen: der höchste Sieg überhaupt für eine deutsche Nationalmannschaft. „Wir hätten noch das eine oder andere Tor mehr machen können“, sagte Flick. Am Ende reichte es nur zu Platz fünf in der ewigen Bestenliste der DFB-Elf.

Kein Grund zum Überschwang

Ein Grund zum Überschwang ist ein 9:0 gegen Liechtenstein allerdings ebenso wenig wie die unangefochtene Spitzenposition der Nationalmannschaft in ihrer Qualifikationsgruppe mit weiteren Schwergewichten wie Armenien, Island und Nordmazedonien. „Man muss es ein bisschen relativieren, weil wir keine extrem schwierigen Gegner in unserer Gruppe haben“, sagte Thomas Müller, der in Wolfsburg zwei der neun Tore erzielt hatte.

Verlässliche Rückschlüsse auf die wahre Stärke der Nationalmannschaft lassen die bisherigen Spiele unter Flick noch nicht zu; verlässliche Rückschlüsse auf die Haltung des Teams hingegen schon.

Dass die Gegner der Deutschen in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr nur bedingt satisfaktionsfähig waren, wird man Hansi Flick nicht zum Vorwurf machen können. Man könnte ihm allenfalls etwas vorwerfen, wenn er die Aufgaben nicht mit der nötigen Seriosität angegangen wäre. Dazu aber besteht nicht der geringste Anlass.

Bei allem Spaß, den das leicht entflammbare Wolfsburger Publikum und die Spieler auf dem Rasen hatten: Der Auftritt der deutschen Mannschaft blieb immer mit Ernsthaftigkeit grundiert. Als Torhüter Manuel Neuer nach einem Ausflug weit jenseits seiner Strafraumgrenze den Ball unbedrängt ins Seitenaus beförderte und seinen Fauxpas mit einem Lächeln quittierte, fingen die Fernsehkameras gleich darauf das Gesicht von Hansi Flick ein. Flick lächelte nicht. Er blickte arg grimmig drein.

Flicks Credo: Man spielt, wie man trainiert

„Ich bin immer tief konzentriert, deshalb ist das mit meiner Mimik nicht immer ganz so einfach“, sagte der Bundestrainer dazu später im Fernsehinterview. Nichts anderes erwartet er auch von seinen Spielern, die gegen Liechtenstein einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zur Gnadenlosigkeit machten. „Ich war sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie wir Fußball gespielt haben“, sagte er.

Flick ist ein Verfechter der These, dass eine Mannschaft genauso spielt, wie sie auch trainiert. Und bei aller Wertschätzung für die tapferen Liechtensteiner: Das angebliche WM-Qualifikationsspiel war für die Deutschen nicht mehr als eine hochwertige Trainingseinheit. Aber nur wer solche vermeintlich leichten Spiele nicht auf die leichte Schulter nimmt, der wird im Ernstfall auch gegen Mannschaften wir Frankreich, Spanien oder Italien reüssieren können. Das zumindest ist Flicks Credo. „Wir wollen uns weiterentwickeln, und dazu wollen wir jedes Spiel nutzen“, sagte er.

Goretzka fällt gegen Armenien aus

Das gilt auch für die Partie am Sonntag in Armenien, die zehnte und letzte der Qualifikation. Selbst wenn der Bundestrainer auf Kapitän Neuer (aus freiwilligen Stücken) und auf Leon Goretzka (wegen einer Prellung nach Hofers rotwürdigem Tritt) verzichtet, will er auch dieses Spiel noch mit Macht gewinnen, obwohl es auf den ersten Blick allenfalls statistische Bedeutung hat. Doch mit genau dieser Unersättlichkeit hat Flick zuvor auch schon den FC Bayern München zu den größtmöglichen Erfolgen geführt.

Flicks Nationalmannschaft soll ein Abbild von Flicks Bayern werden. Auf diesem Weg ist er in nur zwei Monaten bereits ein gehöriges Stück vorangekommen ist. Mit der gleichen Unerbittlichkeit, mit der die Münchner im Viertelfinale der Champions League den vormals großen FC Barcelona mit 8:2 auseinandergeschraubt haben, zerlegte die Nationalmannschaft am Donnerstag auch die bemitleidenswerten Liechtensteiner.

Kurz vor Schluss, nach einer halben Stunde ohne Treffer, entdeckte Flicks Mannschaft noch einmal ihre Gier nach Toren, machte binnen zehn Minuten aus einem 5:0 ein 9:0 und schien geradezu elektrisiert von der Aussicht, dieses Spiel sogar zweistellig zu gewinnen. Am Ende war es vielleicht ganz gut, dass ihr dies nicht mehr gelang. Nicht nur für die armen Liechtensteiner.