Der Stoff, aus dem wir gemacht sind
Dort, wo Małgorzata Mirga-Tas herkommt, fließt nur einige Schritte neben ihrem Haus ein Bach. „So nah ist das Wasser“, sagt die Künstlerin und zeigt wenige Meter weiter zum Oranienplatz, um die Entfernung darzustellen. Hier in Kreuzberg fließt nur der Landwehrkanal und lädt an diesem heißen Sommertag eher nicht zur Erfrischung ein.
Das dichte schwarze Haar hat Mirga- Tas hochgesteckt, sie trägt ein buntbedrucktes luftiges Kleid. Das Muster erinnert an die farbenfrohen Patchworks mit Motiven aus Geschichte und Gegenwart der Roma, die Mirga-Tas zu einer der aktuell wichtigsten osteuropäischen Künstlerinnen machen. Auch sie ist Romni, ihre Familie gehört zu den Bergitka-Roma.
Ihr Texilfresko füllt den kompletten Länderpavillon
Noch immer lebt sie im südpolnischen Czarna Góra umringt von Wäldern und schneebedeckten Gipfeln, mit ihrem Mann und ihren Söhnen, Tanten und Onkeln, Cousinen und Cousins. Das Leben der Roma in dieser Region inspiriert ihr Werk, spiegelt sich in den Alltagsszenen auf den Patchworks oder in ihrer Aufarbeitung des Porajmos, des Völkermords an den Roma im Zweiten Weltkrieg.
2004 machte Małgorzata Mirga-Tags ihren Abschluss an der Kunsthochschule in Krakau, in den folgenden Jahren stellte sie in diversen polnischen und europäischen Galerien aus. In den letzten Jahren stieg ihre Erfolgskurve steil an. 2020 nahm sie an Berlin Biennale teil, im gleichen Jahr wurde sie mit dem renommierten „Paszport Polityki“-Preis ausgezeichnet, als beste visuelle Künstlerin Polens.
Dieses Jahr bespielt sie den polnischen Pavillon in Venedig, als erste Roma-Künstlerin, die in 127 Jahren in einem nationalen Biennale-Pavillon ausstellt. Mit ihrem raumfüllenden Textilfresko kürt die „New York Times“ Mirga-Tas zu einer der zwei besten Künstler:innen der Schau. Auch die Documenta zeigt Werke von ihr, etwas kleinformatiger, im Kasseler Fridericianum.
Im nächsten Januar eröffnet eine große Soloausstellung zum Werk der 44-Jährigen in der Göteborger „Konsthall“: Patchwork-Arbeiten, Skulpturen, Gemälde. Das will alles vorbereitet sein. Gleichzeitig steht der Umzug an, nach Berlin. Ab August ist Mirga-Tas DAAD-Stipendiatin in der Hauptstadt. Ihr Mann, Marcin Tas, und ihre Söhne begleiten sie. Ein Atelier, eine Wohnung für die ganze Familie: Mirga-Tas freut sich über die Freiheiten, die ihr das Stipendium bietet. Und über das Netzwerk mit anderen Künstler:innen polnischen oder Roma-Ursprungs, das sie schon in Berlin hat.
Als Małgorzata Mirga-Tas den Zuschlag für den polnischen Pavillon in den Giardini erhielt, blieben ihr fünf Monate, um ihre Idee zu verwirklichen. In einem leerstehenden Touristenhotel in Czarna Góra breiteten sie und ihr Team Berge an Stoffresten und alten Kleidungsstücken aus. Mirga-Tas zeichnete und plante. Alte T-Shirts und Bettlaken, Spitze, Filzmaterial und Stoffreste wurden zerschnitten und wieder zusammengenäht, bis die riesigen Teile der Fresken irgendwann zusammenpassten.
Für ihre Patchworks arbeitet Mirga-Tas mit drei Näherinnen, die aus ihrem Umfeld stammen. Eine von ihnen ist ihre Tante. „Ich vertraue ihnen völlig“, sagt Mirga-Tas. „Wir sind das beste Team.“ Es ist ihr wichtig, die Leute zu nennen, die sie im künstlerischen Prozess unterstützen. Sie begleiteten sie auch nach Venedig.
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Inspiriert von einem Renaissance-Palast im italienischen Ferrara, dem Palazzo Schifanoia, kleidete Mirga-Tas den rechteckigen Innenraum des Pavillons komplett mit ihrer Stoffkunst aus. Die Fresken in drei Bahnen erinnern in der Farbe und in vielen Details an den Palazzo, wie etwa die genähten weißen Kolonnen in den Ecken. Doch die Geschichte, die die Fresken erzählen, ist die von Mirga-Tas und der europäischen Roma. Als ihre Familie das Kunstwerk besuchte, erkannten sie sich in den Szenen wieder. „Sie fühlen sich wie zu Hause,“ sagt die Künstlerin.
Auf dem untersten Streifen zeigt sie Szenen aus ihrem Heimatdorf Czarna Góra. Eine verschlafene Winterlandschaft, ihre Oma im Bett mit gehäkelter Wolldecke. Männer beim Kartenspielen, Frauen beim Nähen – samt Selbstporträt. In der Mitte zieht auf zwölf Feldern das astrologische Jahr vorbei, umrahmt von Personen, die Mirga-Tas’ Leben und Schaffen wichtig sind: vor allem Frauen aus der Roma-Community, Künstlerinnen oder Aktivistinnen, wie sie. Für den obersten Teil des Freskos ließ sich Mirga-Tas von einem Radierzyklus aus dem 17. Jahrhundert leiten, die „Bohémiens en marche“ des lothringischen Künstlers Jacques Callot. Nur ohne die negativen Stereotype zu reproduzieren, die den Roma seit Jahrhunderten zugeschrieben werden.
Es war ein langer Weg zum internationalen Erfolg
Im Pavillon in Venedig kann man sich in den liebevollen Details verlieren und immer wieder von der Größe des Gesamtkunstwerks überwältigt, in einen der Samtsessel fallen lassen. Die Kurator:innen Joana Warsza und Wojciech Szymański sind stolz darauf, dass Małgorzata Mirga-Tas den nationalen Wettbewerb gewonnen hat. „Wir wollen damit aus dem Diskurs rund um nationale Pavillons ausbrechen“, sagt Warsza.
Die Geschichten der Roma-Gemeinschaft auf die großen Bühnen der internationalen Kunst zu holen, darin steckt jahrzehntelange Arbeit von Mirga-Tas und anderen Roma-Künstler:innen. Mirga-Tas berichtet beim Treffen in Berlin, dass sie lange nicht ernst genommen wurde, oft in die „exotische, ethnografische Ecke“ gestellt wurde. „Früher war es schwer für mich, mit professionellen Galerien in Kontakt zu treten“, sagt sie.
Auf ihrem Weg zum Erfolg halfen ihr Freund:innen und Mitarbeiter:innen, das betont sie immer wieder. Eine davon ist die Kunsthistorikerin Tímea Junghaus, neben dem Sternzeichen Waage auf dem Fresko abgebildet. Die Gründungsdirektorin des European Roma Institute for Arts and Culture ist selbst Pionierin: Als erste Romni erlangte sie in Ungarn einen Abschluss in Kunstgeschichte. Schon 2007 kuratierte sie den ersten „Roma Pavillon“ in Venedig – allerdings als Nebenevent, denn als Volk ohne eigenen Staat ist den Roma ein Nationalpavillon verwehrt. Dieses Dogma fordert Junghaus seitdem auf der Biennale heraus.
Seit der Studienzeit organisiert Mirga-Tas Workshops für Roma-Kinder
Die Anerkennung von Mirga-Tas’ Arbeit wirft nicht nur ein Licht auf die Kunst der Roma. Auch das Nähen, vielerorts noch als weibliche Handarbeit diskreditiert, wird zur hohen Kunst aufgewertet. Ihre erste großflächige Patchwork-Arbeit entstand 2016, mit ihren bunten Textilwerken bedeckte sie die Hütten einer Roma-Siedlung am Rande eines Freilichtmuseums. Auch dort, mitten im Wald, treffen ihre eigenen Geschichten und Kunstnarrative auf die klassischen ethnologischen Diskurse der europäischen Kunstelite.
Patchworks nutzt sie aber auch in ihren Kunstworkshops mit Roma-Kindern, die sie seit ihrer Studienzeit organisiert, um ihnen etwa die Geschichte von Holocaust-Überlebenden näherzubringen. Es sei ihr wichtig, sagt sie, Roma-Kindern zu zeigen, dass Bildung ihnen vieles ermöglichen und viele Türen öffnen kann.
Mamgorzata Mirga-Tas arbeitet mit gespendeten Stoffen und Secondhand-Kleidung. Die Stoffe verleihen den Kunstwerken zusätzliche Bedeutung, Kraft. Neben dem Leben und der Geschichte der Roma erzählen sie auch die Geschichte der modernen Textilindustrie; wie Kleidung hergestellt und um die Welt transportiert wird. Kuratorin Joana Warsza erinnert an das Konzept „Nachleben“, das der Kunsthistoriker Aby Warburg im 19. Jahrhundert auch im Palazzo Schifanoia konstatiert hatte. In Mirga-Tas’ Arbeit gebe es zweierlei „Nachleben“, „einerseits symbolisch, weil sie die Kultur der Roma in den kunsthistorischen und zeitgenössischen Kanon einträgt. Und andererseits haben die Stoffe ein ‚Nachleben’, da jedes Stück eine Reise hinter sich hat, wie die Roma selbst.“
Als Künstlerin wie auch als Aktivistin setzt Mirga-Tas sich dafür ein, dass die künstlerische Arbeit der Roma anerkannt wird. Sie registriert dass es mehr und mehr Ausstellungen mit und über Roma gibt, auch in Polen. Dennoch seien viel zu wenige Künstler:innen sichtbar. Sie hofft, dass es für die nächste Generation einfacher wird. Auch wegen ihr selbst, als Beispiel und Vorbild für die jüngeren Roma um sie herum.