Der Himmel ist auf Italien gefallen

Nun feiern sie, als sei die Hölle los, aber zugleich der Himmel auf ganz Italien gefallen. So strahlend blau wie die Trikots der Squadra Azzurra. Denn seit dem hart erkämpften Elfmetersieg im EM-Halbfinale von Wembley herrscht zwischen Bozen und Palermo: der Ausnahmezustand.

Das Wort gilt, denn das schafft in Italien wirklich nur der Fußball. So richtig gibt es, zumindest in gewöhnlichen Zeiten, Italien nämlich nur als Sehnsuchtsland. Vor allem für die Nordländer. Italien selbst aber zerfällt für seine Bewohner erstmal in lauter Einzelteile. In die Sphären der Familie, der Firma, der Freunde, in lokale Verbände und äußerstenfalls in die eigene Region.

Sprechen Italiener ihr je ursprüngliches Idiom, verstehen sich ein waschechter Neapolitaner und eine veritable Venezianerin weniger gut als, sagen wir: Bayern und Holländer. Erst das Fernsehen hat ab den 1950er Jahren das Italienische in seiner toskanischen Prägung als gemeinsame Sprache landesweit durchgesetzt.

Sizilien galt stolzen Römern dennoch lange als „Afrika“, und viele Anhänger der rassistischen Lega träumen weiter von der Abspaltung des wohlhabenden Nordens vom ärmeren Süden des Stiefels.

“Heroische” Sportler werden gefeiert

Aber jetzt: „Italia eroica a Wembley“ titelt die größte Sportzeitung im Lande. Tatsächlich gleicht sie immer wieder einem Wunder – die Begeisterung bei siegreichen Europa- und Weltmeisterschaften durch die Squadra Azzurra, die himmel- und meerblaue Fußballnationalmannschaft. Sie versammelt so ganz Italien zur geeinten Nation. Die Squadra wird zu „La Nazionale“.

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Und dabei sind es dieselben Tifosi, die sonst als Fans beispielsweise von Inter Mailand oder AS Rom ihre nationalen Konkurrenten derart verabscheuen, dass sie bei Champions-League-Duellen von Juventus Turin mit Real Madrid oder Bayern München nicht dem italienischen langjährigen Meister die Daumen drücken, sondern oft den ausländischen Gegnern.

Natürlich sind die Italiener stolz auf die weltweit geschätzten Wahrzeichen ihrer eigenen Kultur. Auf Pizza und Pasta, Mode und Motoren, auf Leonardo da Vinci, Sophia Loren oder Elsa Ferrante. Doch zugleich sind sie, die schon immer ein Kernland des internationalen Tourismus bewohnen, an diesen Stolz so gewöhnt, dass er ihnen auch die Möglichkeit einer großen Weltoffenheit bietet. Lange galten die Italiener darum als die Europa-freundlichste Bevölkerung.

Doch dieses Selbstbewusstsein ist in den letzten Jahrzehnten durch eigene Malaisen – Korruption, Bürokratismus, Mafia, Misswirtschaft – stark gebrochen worden. Und der Bruch hat die Tore geöffnet für Populismus, wachsende Fremdenfeindlichkeit und politisches Schmierentheater (von Berlusconi bis Salvini). Nicht zuletzt wurden die Deutschen dank Merkels Sparpolitik immer mehr zu Sündenböcken für eigenes ökonomisches Versagen.

Man sollte die Parallelen zwischen Fußball und Politik nicht zu weit strapazieren. Obwohl das die Spätzeiten etwa von Merkel und Löw nun sehr nahelegen. Doch tatsächlich passt der augenblickliche Aufschwung Italiens unter der Regierung von Mario Draghi, der mit Hilfe einiger EU-Milliarden bereits einem kleinen Wirtschaftswunder gleicht, zur augenblicklichen Fußballeuphorie.

Auch ähneln sich Italiens Coach Roberto Mancini und Ministerpräsident Draghi durchaus in ihrer logisch kontrollierten Bedachtheit. Hinzu aber kommen bei der Squadra Azzurra ein Feuer, eine Schnelligkeit in Köpfen und Beinen, ein Teamgeist, all das, was den Deutschen so völlig gefehlt hat. Spanien war in Wembley lange besser, aber Italien am Ende stärker. Noch so ein Spiel, und es könnte zu einem italienischen Sommermärchen reichen.