Das Ohr der Republik
Cem Özdemir ist Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen. Von November 2008 bis Januar 2018 war er der Bundesvorsitzende dieser Partei,
Wer Harry Potter gelesen hat, erinnert sich vielleicht an den Charakter der Rita Kimmkorn, der eifrigen Journalistin, die sich in ein Insekt verwandeln konnte und auf diese Weise unbemerkt aus vertraulichen Gesprächen berichten konnte. Unweigerlich musste ich bei der Lektüre von Robin Alexanders Buch „Machtverfall“ an Rita und ihren Zaubertrick denken – auch wenn die ansonsten eher zweifelhaften Methoden und ihr Verhältnis zur Wahrheit nichts mit Alexanders journalistischen Standards zu tun haben.
[Robin Alexander: Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik. Ein Report. Siedler Verlag, München 2021. 384 Seiten, 22 €.]
Die intimen Einblicke, die der stellvertretende Chefredakteur der „Welt“ aus den innersten Kreisen von CDU und CSU gewährt, sind eigentlich ohne solche Zauberei nicht zu erklären. So lässt Alexander die Leser*innen zum Beispiel an einem Vier-Augen-Gespräch zwischen Markus Söder und Armin Laschet auf einem Balkon in Dresden im August 2019 teilhaben, in dem sie sich wortreich in die Hand geschworen haben sollen, dass sie beide keinerlei Interesse an der Kanzlerkandidatur haben.
Schon seit seinem Politthriller „Die Getriebenen“, in dem Alexander 2017 die Entscheidungsprozesse in der Union rund um die sogenannte Flüchtlingskrise nacherzählt, hat er eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie gut er innerhalb der Union vernetzt ist. Beim Showdown zwischen Laschet und Söder im April dieses Jahres lieferte er auf Twitter fast im Minutentakt wörtliche Zitate aus internen Vorstandssitzungen der Union. Ein Liveticker wie bei einem EM-Spiel, spannend wie ein Elfmeterschießen, nur mit dem Unterschied, dass die Elfmeter von Schäuble, Brinkhaus & Co nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren.
„Machtverfall“ kann als Fortsetzung von „Die Getriebenen“ gesehen werden. Wieder geht es um die Union, wieder um Krisen. Nur die Protagonist*innen sind, abgesehen von Bundeskanzlerin Merkel und Wolfgang Schäuble, andere. Im Zentrum stehen Annegret Kramp-Karrenbauer, Armin Laschet, Friedrich Merz und Markus Söder. Die Krise ist diesmal die Führungskrise der Christdemokraten. In mehreren Etappen streiten sich die Protagonist*innen mal öffentlich, mal klammheimlich um Merkels Erbe. Und wie so oft, sorgt der Zwist dafür, das Erbe – zumindest vorübergehend – zu schmälern.
Erzählstränge, geschickt verknüpft
Die kleine C-Krise, also die der Christdemokraten, spielt vor dem Hintergrund der großen C-Krise, der Corona-Pandemie. Diese bestimmt die Schlussphase von Angela Merkels Kanzlerinnenschaft maßgeblich und würfelt auch die Strategien ihrer potentiellen Erb*innen ordentlich durcheinander. Robin Alexander erzählt die verschiedenen Akte dieses Dramas um Parteivorsitz, Kanzlerkandidatur und Pandemie-Management so lebhaft, dass die Leser*innen das Gefühl haben, mittendrin zu sein. Alexander schafft das, indem er die zwei großen Erzählstränge immer wieder mit spannenden und eigentlich internen Geschichten anreichert, ohne dabei den Faden zu verlieren.
So erfahren wir, wieso es gerade Alexander Dobrindt war, der der Kanzlerin mit der Handynummer von Bodo Ramelow aushelfen konnte. Spoiler: CSU-Landesgruppenchef Dobrindt, früher einmal zuständiger Bundesminister für digitale Infrastruktur, hat den Thüringer Ministerpräsidenten zuerst nicht erreicht. Der war im Funkloch. Wir erfahren auch, dass das Konrad-Adenauer-Haus bei der Tee-Auswahl noch Luft nach oben hat, oder dass AKK sich auf der Rückfahrt von Erfurt nach Berlin nach erfolglosen Gesprächen mit der Thüringer Landtagsfraktion im Zuge der Kemmerich-Wahl im Wagen entnervt die Kopfhörer einsteckt und sofort einschläft. Robin Alexander war auf magische Weise jedes Mal irgendwie dabei – Rita Kimmhorn lässt grüßen.
Eindrucksvoll wird es immer dann, wenn Alexander beide Erzählstränge zusammenbringt: „Der Ministerpräsident ahnt nicht, dass zur gleichen Zeit, nur etwa eine halbe Autostunde von seinem Haus in Aachen entfernt, etwas passiert, das nicht nur das Kandidatenrennen um den CDU-Vorsitz und die Kanzlerkandidatur von Grund auf verändern wird, sondern gleich die ganze Republik: Ein Auftritt des Männerballetts vom Karnevalsverein ,Langebröker Dicke Flaa’.“
Durch das ganze Buch hinweg erwischt man sich dabei zu rätseln, was denn nun tatsächlich genauso gesagt wurde und was wiederum Robin Alexanders Interpolationsgabe zuzuschreiben ist. Zumindest im direkten Umfeld der Bundeskanzlerin scheint der Zaubertrick weniger gut zu funktionieren. Umso interessanter scheint, was Alexander die Bundeskanzlerin zum Beispiel über AKK denken lässt.
Gegenüber der Kanzlerin selbst zeigt Alexander Respekt für ihr strategisches Denken, wenn auch etwas distanziert. Gleichzeitig stellt er ihr beim Management der Corona-Krise kein gutes Zeugnis aus. Er beklagt die fehlende Modernisierung des Landes und die deutsche Bürokratie, die Corona „mit Telefonen, Exceltabellen und Faxgeräten“ bekämpft.
In den Machtzirkeln der Union
Mit „Machtverfall“ ist Robin Alexander ein Pageturner gelungen, der die Leser*innen tief in die Machtzirkel der Union hineinzieht. Sein analytisches Gespür für politische Zusammenhänge macht das Buch zu einem kurzweiligen Leseerlebnis, bei dem man nebenher auch viel über Arbeitsweise und Abläufe des politischen Betriebs erfährt.
Hier möchte ich einwenden, dass Alexander Handlungen fast ausschließlich machtpolitisch begründet. Die Antriebsfeder fast aller scheint – neben verletztem Stolz – vor allem Machterhalt und -zugewinn zu sein. Frei nach dem Motto von Winfried Kretschmann, der mal zu mir sagte: Dort wo man Strategie vermutet, ist es manchmal schlicht Blödheit.
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Dieser Interpretation schließe ich mich natürlich nicht an, wie Sie sicher verstehen werden. Denn hier und da könnte man auch einen Machtwillen für ein Anliegen jenseits des eigenen Geltungsbedürfnisses unterstellen. Der Wille zum Gestalten, die Motivation, Veränderung voranzutreiben und Verantwortung zu übernehmen, kommen eindeutig zu kurz. Aber allein wegen der Einblicke ins Machtzentrum der derzeitigen Kanzlerinnenpartei wird Alexanders Buch über den Tag und das Jahr hinaus relevant bleiben.
Ob die kleine C-Krise in einem Jahr noch eine Rolle spielen wird, werden die Wahlen im September zeigen. Und wer weiß, vielleicht wünscht sich Robin Alexander ja sogar deshalb heimlich einen Sieg von uns Grünen und Annalena Baerbock im Kanzlerinnenamt – auch wenn er im Buch konsequent vom „Nachfolger“ Merkels spricht. Sicher ist, dass er uns Grüne als Hauptkonkurrenten der Union sieht.
Bei einer Kanzlerin Annalena Baerbock müsste er dann allerdings ganz neu unter Beweis stellen, ob sein Zaubertrick auch bei den Grünen funktioniert. Ich werde mich zumindest demnächst öfters mal nach Käfern an der Wand umschauen.