Grünes Gewitter

Ein zerrissenes Blatt für mindestens 600.000 Euro: So ein Kauf will gut überlegt sein. Doch wenn es sich um ein „Umgeschlagenes Blatt“ von Gerhard Richter handelt, um ein Frühwerk dazu, das in geradezu altmeisterlicher Akribie Risse und Schattenwurf als feinste Ölmalerei darbietet, dürfte die weltweite Sammlerschar des Malers eher hingerissen sein. Motivisch ein ebenso frecher wie listiger Kommentar zur Malerei, zu ihrer Spielart des Trompe l’oeil und einer Tradition zurück bis in die Antike.

Richter stellt all das nicht auf den Kopf, sondern bedient sich eines perfekten Illusionismus, den er – durch die Wölbung der Blattkante von der Leinwand in den dreidimensionalen Raum – auf die erkenntnistheoretische Spitze treibt. Was ist Abbild und was Abgebildetes, wenn Motiv und Bildträger in weiß-grauer Tonigkeit und in der Größe identisch sind? Was ist hier und überhaupt Realität und was ist Schein? Das letzte Ölbild aus der 15-teiligen Serie ist das einzige Querformat und das einzige mit einem Riss. Schlusspunkt für einen Neuanfang und wie ein augenzwinkernder Kommentar auch zum eigenen Schaffen.

Der Star ist Emil Nolde

Ginge es um den Schätzpreis pro Quadratzentimeter, wäre Richters nicht einmal DIN-A-4 kleine Leinwand mit Abstand Spitzenreiter der Sommer-Offerte bei Grisebach. Die höchsten Erwartungen schürt in dieser Hinsicht jedoch einmal mehr Emil Nolde mit bis zu einer Millionen Euro. Bildhoch ragt seine einsame „Sonnenblume“ vor einem dramatischen Himmel auf. Massive Wolkenberge schieben sich in einer dynamisch gesetzten Grau-Palette über den tiefblauen Horizont, scheinen die Pflanze am rechten Bildrand gleich dem Wind zu bewegen. Eines der ersten Sonnenblumen-Motive, das der Expressionist 1928, inspiriert durch den Umzug nach Seebüll malte.

Zu weiteren Highlights der Klassischen Moderne gehört Franz Marcs „Grüne Studie“ (300.000–500.000 Euro). Ein großes, hochformatiges Ölbild ohne die typischen Tiermotive, dafür im locker expressiven Duktus und von impressionistisch strahlender Farbigkeit. Eine Leinwand von 1908, die umwerfend frisch und heutig wirkt. Ein wahres Meisterwerk des Impressionismus ist Max Liebermanns „Reiter in der Allee bei Sakrow“ (500.000–700.000 Euro). Das üppige Grün der Bäume wölbt sich wie ein Dach über Reiter und Reiterin, die im lockeren Trab und gesäumt von irisierenden Lichtflecken durch die sommerliche Landschaft ziehen. Ein Spätwerk im vollendeten Einklang von Mensch und Natur.

Wie “King Kong und die weiße Frau”

Sozusagen als Kontrastprogramm werden Liebhaber:innen des Symbolismus gleich im Entree der Villa von einem Giganten empfangen. Max Pietschmanns „Fischzug des Polyphem“ (1892). Ein Kolossalgemälde von knapp vier Metern Höhe und über zweieinhalb Meter breit, auf dem der Zyklop eine Nymphe hoch in die Lüfte hebt. Ein Motiv wie die Vorlage für die berühmte Szene aus dem vier Jahrzehnte später entstandenen Film „ King Kong und die weiße Frau“ wirkt. Lichtdurchflutet und delikat malte der jüngst von Anna Ahrens, Grisebach-Expertin für die Kunst des 19. Jahrhunderts, wiederentdeckte Dresdner Symbolist das mythologische Liebesdrama (50.000–70.000 Euro).

Insgesamt 783 Kunstwerke (mittlere Gesamtschätzung rund 18 Millionen), kommen während sechs Auktionen bei Grisebach zum Aufruf. Eines der faszinierendsten darunter ist Franz Wilhelm Seiwerts „Wandbild für einen Fotografen“. Das Modell steht aufrecht im Lichtkegel, kopfüber in der Linse des Objektivs, nochmals klein im Inneren der Balgenkamera und liegt schließlich auf dem Papierabzug. Was wie eine schematische Darstellung der Fototechnik klingt, verdichtete der Protagonist der Kölner „gruppe progressiver künstler“ 1925 zum faszinierenden Porträt einer ganzen Profession. Dass Seiwert die physikalischen Gesetze recht frei interpretiert – geschenkt. Ist vielleicht Programm, wie die piktogrammartig reduzierten Menschen in der gedämpft warmen Umgebung, die an das charakteristische Sepia früher Fotografie erinnert.

Zur Versteigerung kommt das knapp 110 mal 155 Zentimeter messende „Wandbild“ (400.000–600.000 Euro) nicht bei den Ausgewählten Werken, sondern im Rahmen der „Sander Collection“. Jener Sammlung, die der Fotograf August Sander seit den 1920er-Jahren zusammengetragen hatte. Ein Konvolut von 63 Losnummern mit Malerei und Druckgrafik der Kölner Progressiven, darunter Werke von Heinrich Hoerle, Gerd Arntz und Gottfried Brockmann, deren Kunst nach den Gräueln des Ersten Weltkriegs einem sozialen Engagement und einem neuen Menschentypus verpflichtet war. Der Freundeskreis wurde von Sander nicht nur mit Ankäufen unterstützt, sondern war im intensiven Dialog auch wichtiger Impulsgeber für seine eigene Arbeit, nicht zuletzt für die bahnbrechenden „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Aus dem Mappenwerk des großen Chronisten kommen unter anderem Vintage-Porträts von Otto Dix (40.000–60.000 Euro) zum Aufruf.

Fotografie von William Eggleston

Von nachdenklich gestimmten Aufbruch zeugt Carl Grossbergs „Selbstbildnis“ von 1928. Der Künstler vor einer seiner typischen, technoiden Konstruktionen, neusachlich kühl und magisch realistisch grundiert (300.000–400.000 Euro). Zwischen Grossbergs Selbstporträt und seiner Stadtansicht „Amsterdam, Rokin“ präsentiert Grisebach zur Vorbesichtigung zwei Fotografien von William Eggleston. Ein ebenso kühner wie erhellender Kontext, in dem die Hausfassade, die der Pionier der Farbfotografie 1973 in Memphis, Tennessee aufgenommen hat, einen malerischen Charakter entfaltet (10.000–15.000 Euro). Die streng gerasterte Fensterfront wiederum korrespondiert mit Peter Roehrs Papiercollagen von 1965, die Alltagsgegenstände in serieller Reihung zeigen (20.000–35.000 Euro). Gemäß der Maxime des früh verstorbenen Vorläufers der Konzeptkunst: „Ich verändere das Material, indem ich es wiederhole.“ Den Höhepunkt der Auktion mit zeitgenössischer Kunst bildet die Versteigerung zugunsten der Berlin Biennale und des KW Institute for Contemporary Art, das 30 Jahre alt wird.

Grisebach, Fasanenstr. 25, 27 & 73. Vorbesichtigung: 25.5.–8.6., Mo–So 10–18 Uhr, 8.6. 10–15 Uhr; Auktionen 9.–11.6. www.grisebach.com