Ein Auge für Augenblicke: Hugo Dittberners Erzählungen

Lange hat man nichts mehr von dem Lyriker und Prosaautor Hugo Dittberner gehört. Seine Bücher erschienen einst in renommierten Verlagen, sein Romandebüt „Das Internat“ 1974 bei Luchterhand, seine Erzählungen in der Reihe „Das neue Buch“ bei Rowohlt. Dittberner wirkte auch hinter den Kulissen des Literaturbetriebs, etwa als Mentor in der Autorenförderung der Stiftung Niedersachsen. Wer das Glück hatte, ihn in dieser Rolle zu erleben, fand in ihm einen zugewandten, überaus kundigen Leser.

Es gab auch den Rezensenten und Essayisten Dittberner, der für die „Frankfurter Rundschau“ schrieb und Redakteur der Zeitschrift „Text + Kritik“ war. Unvergessen sein Einwand gegen die sprachmächtige Lyrik eines Thomas Kling, in der er ausgerechnet das Schöne vermisste.

Ein Generationenkonflikt: Kling wiederum hatte die Lyrik der siebziger Jahre in Bausch und Bogen verworfen, die sogenannte Alltagslyrik oder Neue Subjektivität. In eben dieser Zeit, als man Pril-Blumen klebte, heutige Rock-Dinosaurier noch jung waren, die Politisierung von 1968 langsam nachließ und in der Literatur neue, unbefangene Schreibweisen ohne theoretischen Ballast erprobt wurden, begannen in rascher Folge die Bücher des 1944 im niedersächsischen Gieboldehausen geborenen Hugo Dittberner zu erscheinen, der nach dem Abitur in Göttingen studiert hatte. In der Lyrik wie in der Prosa galt ihre ganze Aufmerksamkeit der Wahrnehmung von Augenblicken. Nah an der Person, aber mit wachem Blick für gesellschaftliche Zurichtungen.

Nun sind im Schweizer Nimbus Verlag ausgewählte Erzählungen Dittberners erschienen, und man kann nicht genug staunen über die frische Lesbarkeit der Texte, die fast alle aus den siebziger und achtziger Jahren stammen. Man fängt an zu lesen, schon ist man drin. Es sind klassische, unprätentiöse Anfänge: „Die Familienverhältnisse bei den Wehrhahns waren etwas kompliziert.“ Nicht mehr und nicht weniger als das menschliche Leben wird verhandelt, ein Leben, das selten glamourös, oft verwirrend, öfters schmerzhaft und bisweilen komisch ist. Manchmal erleben wir nur eine Stunde an einem Nachmittag, dann zieht ein halbes Leben rasch vorüber. Klug sind wir am Ende selten, aber oftmals berührt und verwundert.

Ohne dass die Erzählungen erkennbar autobiografisch wären, sind sie durch den Erfahrungshorizont ihres Verfassers bestimmt, sie berühren noch die Welt der Kriegsheimkehrer, spielen aber vor allem in der Gegenwart. Gerade das macht sie für uns heute so interessant: Sie erlauben Zeitreisen in die westdeutsche Provinz, in eine merkwürdig stehende Zeit, als noch niemand an einen Mauerfall in Berlin dachte – eine Stadt, die in diesem Buch nur ein einziges Mal erwähnt wird, noch dazu ohne Gegenwartsbezug: Vielmehr streift die Titelerzählung „Der Professor im Keller“ dabei eine Episode aus der deutschen Kolonialzeit.

Ein in die Jahre gekommener Historiker, der sich in den Sommerferien in seinem Haus verkriecht, während seine Frau in Urlaub gefahren ist, quält sich mit einem Essay über den deutschen Politiker Wilhelm Solf, zeitweise Gouverneur der Kolonie Deutsch-Samoa. Dieser hatte 1904, bemüht um einen „humanen Kolonialismus“, einen Aufstand ohne Waffengewalt beendet.

Kaum vorstellbar, dass heute ein solch heikles Sujet in einer Erzählung mit humoristischen Wendungen verhandelt werden könnte: Hier trinkt der Professor beim Schreiben seinen halben Weinkeller aus und legt sich dabei mit seinem Sohn an, der in die SPD eingetreten ist. Gelingen kann ein solches Erzählen, indem der Autor seine Figuren weder vorführt noch bevormundet. Er macht sie sichtbar in ihren Eigenheiten und Beschränkungen, aber ein Urteil fällt er nicht.

Sehr Siebziger ist auch die Eröffnungsgeschichte „Eine Flasche Brandy“, in der nichts weiter geschieht, als dass eine offenbar attraktive Frau eine WG in Göttingen aufsucht, um jemanden zu treffen, der dort nicht mehr wohnt. Die Flasche, die sie für ihn mitgebracht hatte, leert sie stattdessen mit den heutigen Bewohnern und den Bauarbeitern von gegenüber, wobei sie manche Anzüglichkeit über sich ergehen lässt, und geht dann wieder. Auch hier ist die gelassene Erzählhaltung hervorzuheben, die es ganz uns überlässt, eine Meinung zu fassen.

Reisen außerhalb Niedersachsens unternehmen die Figuren gelegentlich auch, im Nachtzug nach Rom, wo ein etwas farbloser Mann einer Frau begegnet, die er schon an der Uni nicht anzusprechen wagte, oder, ebenfalls mit dem Zug, durch den Nordosten Schottlands. Dabei ist dann vom kürzlich erfolgten Beitritt Großbritanniens in die Europäische Gemeinschaft die Rede. Manches war eben doch erfreulich in den siebziger Jahren, nicht zuletzt eine gewisse Ungezwungenheit. Dank der Erzählungen Hugo Dittberners, der im November 80 Jahre alt wird, können sich einige von uns daran erinnern, andere hören davon zum ersten Mal.