Das Olympiastadion fest in türkischer Hand: Ein Vorgeschmack auf „eine kleine Heim-EM“ in Deutschland
Kaan Ayhan zögerte für mehr als nur einen Moment. Er ließ sich ein wenig Zeit, als müsse er die Frage erst noch richtig auf sich wirken lassen. Dann lächelte er – für mehr als nur einen Moment. Der Mittelfeldspieler der türkischen Fußball-Nationalmannschaft war zur Stimmung im Berliner Olympiastadion befragt worden.
Kein Wunder, dass ihm der Gedanke daran auch weit nach dem Schlusspfiff noch ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. „Es war ein sehr, sehr gelungener Abend“, sagte Ayhan. Nicht nur wegen des 3:2-Erfolgs seiner Mannschaft gegen die Deutschen, nicht nur wegen des ersten Sieges der Türken auf deutschem Boden seit 72 Jahren, sondern auch wegen der Euphorie der türkischen Fans, die aus dem Auswärtsspiel ein Heimspiel gemacht hatten. „Die Zuschauer haben uns Energie gegeben“, sagte Ayhan.
Selbst weit nach dem Schlusspfiff war diese Energie noch zu spüren – als die türkische Mannschaft alle vier Ecken des Stadions aufsuchte, um sich feiern zu lassen. Die Ostkurve, wo die deutschen Anhänger gestanden hatten, war da längst leer und verlassen.
Ayhan, der früher für Schalke 04 in der Bundesliga gespielt hat und inzwischen bei Galatasaray Istanbul unter Vertrag steht, hatte seine Mannschaft an diesem Abend als Kapitän aufs Feld geführt. Bei der Seitenwahl stand der gebürtige Gelsenkirchener dem gebürtigen Gelsenkirchener Ilkay Gündogan gegenüber, der von den türkischen Fans noch ein bisschen mehr nieder gepfiffen wurde als die anderen deutschen Spieler.
Erfolge gegen Deutschland sind für die Türken wegen der Verflechtung beider Länder per se etwas Besonderes. Dieser Sieg aber – sieben Monate vor der Europameisterschaft und am Schauplatz des EM-Finales – war noch ein bisschen besonderer. Er bestärkte die Türken in ihrer Zuversicht, dass sie auch im nächsten Sommer in Deutschland eine wichtige Rolle spielen können. „Ich bin echt zuversichtlich, dass man von uns noch hören wird“, sagte Ayhan.
Genau wie die Deutschen, so haben auch die Türken im September den Nationaltrainer gewechselt. Der Italiener Vincenzo Montella hat Stefan Kuntz abgelöst, und unter ihm hat die Mannschaft bereits vor einem Monat vorzeitig die Qualifikation für die EM perfekt gemacht. „Unser Trainer hat an den richtigen Stellen angepackt“, sagte Ayhan. „Wir konzentrieren uns auf die einfachen Sachen.“
Die Zuschauer haben uns Energie gegeben.
Kaan Ayhan, Kapitän der Türken, über die Stimmung im Olympiastadion.
Gegen die Deutschen überzeugten die Türken weniger durch eine ausgeklügelte Taktik als durch Wucht und Leidenschaft. Mit langen Bällen hinter die weit aufgerückte Defensive zu gelangen, das war allerdings kein Zufall, sondern genau ihr Plan.
Die beiden Tore aus dem Spiel heraus – durch Ferdi Kadioglu und Kenan Yildiz – wirkten wie der Gegenentwurf zur Verspieltheit der Deutschen. Während es der Mannschaft von Bundestrainer Julian Nagelsmann vor dem Tor an Konsequenz fehlte, spielten die Türken klar und einfach, zielstrebig und schnörkellos.
„Wir werden nicht jedes Spiel gewinnen“, sagte der 29 Jahre alte Ayhan, aber „jung und willig“ sei die Mannschaft. Das gilt nicht zuletzt für Kenan Yildiz, der sein Team in der Nachspielzeit der ersten Hälfte durch einen wuchtigen Schuss unter die Latte mit 2:1 in Führung gebracht hatte.
Yildiz ist vor 18 Jahren in Regensburg geboren worden, er hat bis zum Sommer 2022 in der Jugend des FC Bayern München gespielt und steht inzwischen bei Juventus Turin unter Vertrag. In Berlin bestritt der offensive Mittelfeldspieler sein zweites Länderspiel für die Türkei, erstmals durfte er von Beginn ran. „Es tut gut, wenn man so einen jungen Wilden hat, der unbekümmert ist und es dem Gegner schwer macht“, sagte Ayhan.
Und es tut gut zu wissen, dass die Türken auch im kommenden Sommer in Deutschland vermutlich ausreichend Unterstützung erfahren werden. „Man hat heute gesehen, dass es eine kleine Heim-EM für uns werden kann“, sagte Ayhan. Das könne für das Turnier ein wichtiger Faktor sein.
So wie es auch am Samstagabend ein wichtiger Faktor war. Die Euphorie seiner Landsleute hatte auch Ayhan zu spüren bekommen. Allein aus seinem privaten Umfeld waren rund hundert Ticketanfragen für das Länderspiel in Berlin an ihn herangetragen worden. Nur ein Viertel davon konnte er aus dem ihm zustehenden Kartenkontingent bedienen. „Leider konnte ich nicht jeden glücklich machen. Ich war limitiert“, sagte Kaan Ayhan. „Aber das ist schöner Stress.“