Neues Album von Feist: Wie man zarte Gewitter entfacht
Haben wir es hier mit einem gesungenen Kalenderspruch zu tun oder doch mit einer weisen Einsicht? „Love is not a thing you try to do / It wants to be the thing compelling you / To be you“ (Liebe ist keine Sache, die man zu tun versucht/ Sie will die Sache sein, die dich zwingt/ du zu sein).
Mit diesen Zeilen schließt die kanadische Musikerin Leslie Feist ihren Song „Hiding Out In The Open“, wobei sie vor den letzten drei Worten eine kurze Verzögerung einbaut. Gerade durch die Schlichtheit sowie die Sanftheit des Vortrags entsteht ganz beiläufig eine erstaunliche Überzeugungskraft.
Diesen Effekt haben viele der zwölf Songs auf Feists wunderbarem sechstem Album „Multitudes“, das sie so verletzlich und offen wie keines ihrer bisherigen Werke zeigt. Es folgt über weite Strecken einem klassischen Folk-Konzept mit ihrer immer wieder gedoppelten Stimme und der Akustikgitarre im Zentrum. Die häufig ohne Schlagwerk auskommenden Arrangements sind von großer Transparenz und Effizienz.
Das zeigt sich etwa, wenn Feist das zunächst auf einem Gitarren-Arpeggio und zitternden Streichern basierende „Become The Earth“ in der Mitte durch den Einsatz eines A-cappella-Chors mit sich selbst in eine völlig andere Bahn lenkt – und dieser Meditation über die Sterblichkeit zugleich Tiefe und Leichtigkeit verleiht.
„Some people have gone and the people who stayed/ Will eventually go in a matter of days/ Dust into dust as material must/ Ash into ash into plexi and trash“, singt die 47-Jährige darin. Inspiriert ist der Text paradoxerweise von dem Moment, in dem sie ihre Adoptivtochter erstmals in den Armen hielt. Sie habe ihr „eigenes Ende gefühlt“, sagte sie dem „Rolling Stone“. Nicht ahnend, dass sie kurz darauf den Tod ihres geliebten Vaters verkraften musste.
Auf „Multitudes“ lassen sich diese existenziellen Einschnitte des Mutterwerdens, der Trauer und auch der Pandemie, in der das Album entstand, bestenfalls erahnen. Am ehesten noch bei den wenigen Liedern, die von der mitunter an Nick Drake und Joni Mitchell erinnernden Singer-Songwriter-Innerlichkeit abweichen.
Dazu gehört der Eröffnungssong „In Lightning“, der mit seinem Beatgewitter, einer durch die Wolken taumelnden E-Gitarren-Solo und sirenenhaften Gesangsspitzen, tatsächlich eine Sturmassoziation evoziert. Dieser leicht krawallige Auftakt führt die Hörenden zwar auf die falsche Soundfährte, fordert aber sofort deren volle Aufmerksamkeit – ein schlauer Zug für eine Musikerin, die seit sechs Jahren kein neues Album herausgebracht hat.
Aufgenommen in Zusammenarbeit ihren alten Weggefährten Robbie Lackritz und Mocky in einem Studio in North Carolina bezieht Feist sich mit dem Albumtitel auf ihre vielen verschiedenen Rollen. Dass man auch an Bob Dylans im Rückgriff auf eine Walt Whitman-Zeile benannten Song „I Contain Multitudes“ von 2020 denkt, ist vielleicht ebenfalls nicht ganz unbeabsichtigt.
Zu Feists vielen Rollen gehörte im vergangenen Sommer, sich zur Causa Win Butler verhalten zu müssen. Der Frontmann von Arcade Fire wurde mit schweren MeToo-Vorwürfen konfrontiert, die er bestreitet. Feist war gerade mit der Band auf Tour, als die Anschuldigungen aufkamen und entschied sich auszusteigen.
Mit „Borrow Trouble“ gibt es auf „Multitudes“ nun einen Song, der wie ein nachgeschobener Kommentar auf die Situation wirkt. Feist singt darüber, dass wir uns manchmal Probleme von anderen ausleihen, wobei der hymnische Refrain exakt wie der von Arcade Fire perfektionierte Stadion-Folk klingt. In dieser Quasi-Überschreibung des Sounds ihrer Landsleute kann man eine Selbstbefreiung sehen. Mit einem Wutschrei ist die Sache erledigt – und im nächsten Stück trällert schon wieder eine Flöte.