„Eines langen Tages Reise in die Nacht“: Wer ist Schuld an der kaputten Familie?

Eugene O’Neill hatte wohl keine glückliche Kindheit. Der Vater war Schauspieler in einer reisenden Truppe, die mit dem „Grafen von Monte Christo“ tingeln ging, die Mutter begleitete ihn auf seinen Tourneen, weswegen der kleine Eugene von Hotel zu Hotel geschleppt wurde.

Biografen vermerken, dass sein schottisches Kindermädchen ihn dabei mit Mörder- und Gruselgeschichten traktiert haben soll. Entsprechend abenteuerlich ging es für den jungen Erwachsenen weiter: O’Neill war erfolgloser Goldsucher in Honduras, fuhr wiederholt als Matrose zur See, scheiterte bei einer Lokalzeitung, erkrankte an Tuberkulose, musste immer wieder die Eltern um Geld bitten – und seine frühen Einakter fürs Theater entstanden im Hinterzimmer einer Kneipe im New Yorker Greenwich Village, die von Besucher:innen nur „das Höllenloch“ genannt wurde. Kurzum: ein geradezu bilderbuchhaftes Künstlerleben.

Das Beste daran: solche Brüche und Leiderfahrungen eignen sich hervorragend für die Bühne. In einem seiner bekanntesten Stücke, „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, hat O’Neill bemerkenswert unverblümt seine Eltern, seinen Bruder sowie sich selbst porträtiert – und damit einen Klassiker des Genres „neurotische Familien und ihre Verstrickungen“ geschaffen, andockfähig für fast alle, die nicht im Waisenhaus aufgewachsen sind.

Es gibt diesen berühmten Tolstoi-Satz („Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Art unglücklich“), den auch die Schauspielerin Judith Rosmair im Programmheft zu Torsten Fischers O’Neill-Inszenierung am Schlosspark Theater zitiert. Daran bestehen berechtigte Zweifel. Gerade weil sich bestimmte Konstellationen verhängnisvoller Verwandtschaftsbande sehr wohl ähneln, wird „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ heute noch gespielt (vor allem in Privattheaterkreisen).

Rosmair hat die Rolle der Mary Tyrone, einer Morphinistin, die zu Stückbeginn frisch aus der Entziehungskur entlassen wurde. Vater James Tyrone (Peter Kremer) und der älteste Sohn James jr. (Igor Karbus), die beide als Schauspieler hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben sind, haben Theaterferien.

Der jüngere Sohn Edmund (Fabian Stromberger) ist ebenfalls ins Sommerhaus der Familie gereist und kränkelt erkennbar, was als Grippe weggelächelt wird. Man merkt schon: Es ist ein fragiles Idyll an diesem Augustmorgen des Jahres 1912. Mit fortschreitender Zeit und zunehmendem Whiskeykonsum verweht der Schein der friedlichen Zusammenkunft dann restlos. Die Tyrones gehen sich als Gefangene der eigenen Vergangenheit erbittert an den Kragen. Wie Mutter Mary sagt: „Das macht es so schwer für uns alle. Wir können nicht vergessen“.

Bei stammelnden Nebelleuten

Über allem steht dabei die Schuldfrage. Ist der notorische Geiz des Patriarchen für Mutters Sucht und den Tod eines weiteren Sohnes der Familie verantwortlich? Hat James senior aus seinen Sprösslingen lebensuntüchtige gemacht? Und wird er sich erneut versündigen, indem er Edmund – tatsächlich an Tuberkulose erkrankt – in eine kostengünstige staatliche Heilanstalt abschiebt? Die Antworten liegen im Nebel, der immer dichter um das Haus zu wabern beginnt.  

Regisseur Torsten Fischer und seine Bühnen- und Kostümbildner Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos (als Team zuvor lange Jahre am Renaissance-Theater präsent) versuchen O’Neill beim Wort zu nehmen und schaffen ein psychologisch realistisches Setting für die fuselbefeuerte Zimmerschlacht der Tyrones.

„Stammelnde Nebelleute“, hat der Autor sie selbst mal genannt, „die immer wieder ihre eben erst gesprochenen Worte vergessen“. Genau darin liegt der Reiz des Stücks: auf jedes Schuldeingeständnis folgt sofort die Ausrede, sobald eine Lebenslüge auffliegt, wird sie wieder bemäntelt.

Judith Rosmair, Peter Kremer, Igor Karbus und Fabian Stromberger – die sich im überdimensionierten, neonumrandeten Garderobenspiegel bewundern dürfen, der auf der Bühne als einziges Abstraktionselement die Selbstdarstellungssucht dieser Sippe versinnbildlicht – gehen mit viel Verve an die Arbeit. Erkennbar bemüht, jede unverpflasterte Wunde ihrer Figuren auszudeuten. Wobei sie allerdings dazu neigen, Lautstärke mit Ausdruckskraft zu verwechseln. Sei’s drum, das Premierenpublikum beklatscht den Abend glaubhaft begeistert.

Einen wirklich schönen Moment hat Stromberger, wenn er als Edmund von einer glücklichen Fahrt auf einem Windjammer erzählt: „Für einen kurzen Augenblick verlor ich mich selbst – ja wirklich, ich verlor mein Leben. Ich war befreit, war frei! Ich hatte mich aufgelöst, war aufgegangen in Gischt und Meer und Segel …“. Da klingt ein Dramatiker durch, der wusste, wovon er sprach.

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