Tod eines kleinen Drecksacks
„Hätte es doch nur mehr Momente wie diesen gegeben.“ Das sagt Hippolytos, der Königssohn. Allerdings nicht nach einem Kuss oder nach dem Durchscrollen der süßesten Katzenfotos im Netz, sondern während er stirbt. Kurz, bevor ihn die Geier fressen.
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Ja, die britische Dramatikerin Sarah Kane besaß auch einen Sinn für abgründigen Humor. Wobei sie ihrem Protagonisten den Stoßseufzer auch mit therapeutischem Hintersinn in den Mund gelegt hat: „Eine Chance, seinen sogenannten Verstand zurückzuerlangen, hat man nur, wenn man wieder an sich angeschlossen ist, geistig, körperlich, emotional. Hippolytos erfährt diese Einheit im Moment seines Todes.“ So die Autorin in einem Interview, das im Programmheft der Inszenierung „Phaidras Lieb“” am Berliner Ensemble abgedruckt ist.
[Wieder vom 7. bis 9. Mai]
Ein Problem der Sarah-Kane-Rezeption ist bis heute, dass ihre Stücke oft vom Ende her gelesen werden, dass vor allem ihr letztes Werk „4:48 Psychose“ oft als Bilanz des eigenen, zutiefst unglücklichen Lebens kurz vor dem Suizid der Autorin im Alter von 27 Jahren begriffen wird. Auf diese biografische Verengung verfällt der Regisseur Robert Borgmann im Neuen Haus des BE glücklicherweise nicht. Das Stück, 1996 am Londoner Gate Theatre uraufgeführt, variiert zwar viele von Kanes Herzensthemen. Sebstzerstörerische Liebe, radikale Wahrheitssuche, den Riss zwischen Körper und Seele. Es nimmt aber den Umweg über Seneca und wirkt insgesamt nicht so drängend wie der Erstling „Zerbombt“ oder das nachfolgende „Gesäubert“.
Zwei Hauptfiguren in einer Schauspielerin
Die stärkste Setzung von Robert Borgmann besteht darin, dass er die Hauptfiguren – Hippolytos und dessen Stiefmutter Phaidra – in einer Schauspielerin bündelt und die übrigen handelnden Personen (darunter Theseus, Strophe, ein Priester und ein Arzt) nur als Stimmen aus dem Off vorkommen lässt. So wird das Stück über die Verbandlungen einer schrecklich verkommenen Königsfamilie zum tragischen Solo. Die fabelhafte Stefanie Reinsperger spielt mal in kurzen Hosen Hippolytos, einen wohlstandsverwahrlosten Drecksack, der sich ausschließlich von Hamburgern ernährt und seine ihn brennend liebende Stiefmutter in aggressiv-kleinkindhaftem Duktus auflaufen lässt. Dann wieder tritt sie als Phaidra auf, die um Fassung bemüht im Dialog mit Hippolytos vor die Wand spricht.
Verzweifelte Schizophrenie
Borgmann hat für diese Übung in verzweifelter Schizophrenie auch die zweigeteilte Bühne gestaltet: links die Nachtseite mit kalt vor sich hinleuchtendem Solarium. Rechts eine Gaming-Welt mit Riesenkegeln, Smiley-Ball und Videoscreen. Zudem performt er gemeinsam mit Nazanin Noori auch den Live-Soundtrack, Ambient-Hardcore-Kompositionen, die ebenso geloopt sind wie viele Textpassagen – ein durchaus stimmiges Bild für die ins Leere laufende Liebessuche der Phaidra und das Selbstgespräch, das sowohl sie, als auch Hippolytos führen.
Borgmanns Inszenierung erzählt im Kern von Einsamkeit und Selbstentfremdung, was Stefanie Reinsperger in ein mal fein moduliertes, dann wieder rotzig-wütendes Spiel übersetzt. Sie trägt den gesamten Abend. Die Frage bleibt: wohin? Hippolytos wird am Ende eine Vergewaltigung Phaidras gestehen, die er nicht begangen hat. Schuldig als Scheusal ist er trotzdem. Eine Selbstaufgabe, der Reinsperger kalte Zwangsläufigkeit verleiht. Dennoch: die Intention, dieses Stück heute zu erzählen, die hat wohl der Geier geholt. Patrick Wildermann