Jamal Musiala ist auch im Zentrum eine herausragende Option
Gegen Ende der ersten Halbzeit bewegte sich Jamal Musiala ausnahmsweise in seinem natürlichen Habitat. Dort, wo Toraus- und Seitenlinie zusammentreffen, in der Ecke des Spielfelds. Musiala sah sich zwei niederländischen Verteidigern gegenüber und er war jetzt genau in seinem Element. Er dribbelte und fintierte, und am Ende schaffte er es, auch diese knifflige Situation in Wohlgefallen aufzulösen.
Jamal Musiala, eben erst 19 Jahre alt geworden und beim FC Bayern München angestellt, wird gemeinhin als dribbelstarker Offensivspieler geführt, als der Mann für die engen Räume, der schwer zu greifen ist und immer wieder überraschende Lösungen findet. Aber stimmt das überhaupt noch? Dass dieses Bild ausgerechnet am Dienstagabend in der Johan-Cruyff-Arena in Amsterdam ins Wanken geraten ist, das hatte zumindest einen netten Beiklang.
Bundestrainer Hansi Flick hatte den jungen Münchner nicht etwa in der Offensive aufgeboten, sondern eine Reihe dahinter, als zweiter Sechser neben dem Routinier Ilkay Gündogan. In der Vergangenheit hat es schon einmal einen ähnlichen Fall gegeben: einen jungen Wilden, der sich die Seitenlinie entlang dribbelte, der mit seinen Windungen und Wendungen und seiner unbekümmerten Art das Publikum verzückte – der seine volle Kraft aber erst entfaltete, nachdem er vom Rand ins Zentrum des Spiel verfrachtet worden war.
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Der Mann, der all das als Erstes erkannt hatte, saß am Dienstag, beim Länderspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Holland, auf der Trainerbank. Auf der des holländischen Teams. Louis van Gaal war es, der den begnadeten Fummler Bastian Schweinsteiger beim FC Bayern ins defensive Mittelfeld versetzt und damit einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Geschichte des deutschen Fußballs ausgeübt hat. Diese Geschichte endete 2014 mit dem Gewinn des WM-Titels.
Für Jamal Musiala und die neue deutsche Nationalmannschaft ist es bis zum WM-Titel noch ein weiter Weg, und doch gibt es zumindest Parallelen. Die Idee, den Dribbler ins Zentrum zu stellen, ist auch bei Musiala im Verein geboren worden; Julian Nagelsmann hat das zuletzt schon häufiger ausprobiert. Flick ist dem nun gefolgt, so wie sein Vorgänger Joachim Löw bei Schweinsteiger dem Beispiel van Gaals gefolgt ist. Dass es ein unkalkulierbares Wagnis ist, das wird wohl niemand behaupten. Schon gar nicht nach Musialas Auftritt in Amsterdam.
Seine Qualitäten am Ball sind bekannt: dass er sich im eins gegen eins durchsetzen kann und technisch stark ist. Gegen die Holländer aber kam auf der neuen Position eine andere Komponente hinzu. „In der Defensive hat er es wirklich herausragend gemacht“, sagte Flick. „Jamal hat gezeigt, dass er auf dieser Position auch eine Option ist.“ Musiala war beim 1:1 der deutschen Nationalmannschaft in Amsterdam sogar mehr als nur eine Option: Er war der Beste seiner Mannschaft. Der Teenager interpretierte die anspruchsvolle Rolle im Zentrum des deutschen Spiels auf eine beeindruckend erwachsene Weise, überzeugte mit Übersicht und Spielintelligenz und konnte sich dank seiner fußballerischen Fähigkeiten immer wieder aus komplizierten Situationen befreien.
„In letzter Zeit mache ich das schon gut“, sagte Musiala. „Ich bin jetzt auf einem guten Weg.“ Natürlich weiß er, dass die Position andere Anforderungen an ihn stellt. Weiter vorne wird es von ihm geradezu verlangt, immer wieder ins Risiko zu gehen – auch auf die Gefahr hin, den Ball mal zu verlieren; vor der Abwehr hingegen wäre das töricht und vor allem höchst gefährlich. „Man muss ein bisschen anders spielen“, sagte Musiala, „cleverer, mit mehr Disziplin.“
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In Amsterdam schien ihm das keine größeren Schwierigkeiten zu bereiten. Sie nennen ihn Bambi, aber naiv und sprunghaft wie ein junges Reh ist Musiala offenbar nicht. Gegen die Holländer fand er eine stabile Mitte zwischen Risiko und Sicherheitsdenken, war zudem erstaunlich robust auch in den Zweikämpfen. Dass er mit Gündogan einen erfahrenen Partner an seiner Seite hatte, der sich etwas zurücknahm und den defensiven Part selbstlos auf sich nahm, das kam ihm allerdings durchaus entgegen.
Es ist nicht so, dass Flick auf der Sechserposition die ärgsten Probleme hätte, im Gegenteil. Die Auswahl ist ohnehin groß, immerhin fehlten in Amsterdam die beiden Münchner Joshua Kimmich und Leon Goretzka, die beide einen berechtigen Anspruch auf einen Stammplatz in der Nationalmannschaft erheben. Aber mit Musiala kommt zu den ohnehin namhaften Optionen eine weitere hinzu. „Der Kader wird immer größer“, sagte der Bundestrainer. „Es ist hervorragend, wenn man Auswahl hat an Qualität.“ Zumindest auf einigen Positionen ist das so.