Vor lauter Appellen gerät das Kino fast aus dem Blick
Willkommen, bienvenue, welcome. Mit ihrem „Cabaret“-Entree gibt Meret Becker im Schneeflocken-Outfit den Ton vor, polyglott, cool, charmant, pathetisch – und auch etwas nervös. Nervös sind viele auf der Bühne bei der Eröffnung dieser 72. Berlinale am Donnerstagabend.
Alles so besonders diesmal: Gala-Gäste mit Abstand und Maske im Berlinale Palast am Potsdamer Platz, ein eher schütterer roter Teppich – mit Iris Berben, Heike Makatsch, Maria Furtwängler, Ulrich Matthes, Burghard Klaußner, Jella Haase, Cem Özdemir und Nancy Faeser im Blitzglichtgewitter, dazu die internationalen Jurys, darunter die sieben Bären-Juror:innen. Immerhin.
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Die Pandemie, kaum ausländische Stars und das Wagnis einer Präsenz-Berlinale bei Rekord-Infektionszahlen. Kein Wunder, dass Festivalleiter Carlo Chatrian Festivalleiterin Mariette Rissenbeek mit einer Umarmung überrascht, auf offener Bühne.
Das passt nicht schlecht zum Eröffnungsfilm, mit dem an diesem Abend nicht nur das Festival startet, sondern auch der Bären-Wettbewerb: François Ozons Fassbinder-Hommage “Peter von Kant” erzählt davon, was geschieht, wenn Männer Gefangene der Liebe sind.
Zuvor hatte Chatrian noch einmal das Gemeinschaftsgefühl nach zwei Jahren Corona beschworen. Sonst bestehe die Gefahr, dass wir noch anfangen, die Bilder mit echten Menschen zu verwechseln.
Der Abend im Berlinale Palast, ungemein weiblich
Diversität, Humanität, Green Shooting und die Sorge um den zerrütteten Planeten: Vor lauter Appellen gerät das Kino fast aus dem Blick. Die zahlreichen Rednerinnen – außer Chatrian sind es ausnahmslos Frauen – gemahnen an das Menschenrecht, dass Europa auch für Geflüchtete offen steht (Meret Becker), an die Freiheit und den Mut von Künstler:innen, die die Welt zu ändern versuchen (Sibel Kekilli), an die Verführungskraft des Kinos (Marie Bäumer).
Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey sichert der Filmhauptstadt ihre Unterstützung zu und Kulturstaatsministerin Claudia Roth legt einen derart enthusiastischen Trotz an den Tag, dass jede Skepsis ob der Omikron-Berlinale beinahe verfliegt.
„Wir lassen uns von Corona nicht unterkriegen!“, ruft Roth in den Saal. „Ohne die Kultur verlieren wir nicht nur einander, sondern auch uns selbst.“
Dann sorgt die Grünen-Politikerin für den Höhepunkt der Gala und begrüßt die Ehrengäste, Personal aus Berliner Kliniken, nennt die Pflegekräfte einzeln mit Namen. Stehende Ovationen für die Stars aus den Intensivstationen. Noch glamouröser wäre es, sie würden endlich anständig bezahlt.