3D-Film über Anselm Kiefer: Die Wenders-Festspiele von Cannes
Um das Fundament des Kinos gegenüber den immateriellen Datenströmen der Streamingportale abzugrenzen, ist Cannes-Chef Thierry Frémaux in diesem Jahr in Interviews dazu übergegangen, von Filmen auch als „Kino-Objekten“ zu sprechen. Ganz im Gegensatz übrigens zum diesjährigen Jury-Präsidenten Ruben Östlund, der auf der Eröffnungsgala am Dienstag bereits vom „Content“ der Bilder redete. Frémaux wiederum hat sich mit Wim Wenders vielleicht den eloquentesten Kronzeugen für seine Vorstellung von Kino an die Croisette eingeladen, auch wenn dessen Dokumentarfilm „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ nur außer Konkurrenz gezeigt wird.
Wim Wenders hat einen 3D-Dokumentarfilm über den deutschen Großkünstler Anselm Kiefer gemacht, wobei das „Groß-“ im Fall von Kiefer nicht nur seinem Wert am heißgelaufenen Kunstmarkt entspricht, sondern gewissermaßen auch figurativ zu verstehen ist. Vor dreißig Jahren, um die Zeit seiner Blockbuster-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, kaufte sich Kiefer auf dem Zenit seines Schaffens eine Werkshallen-Ruine mitsamt Wäldchen in Frankreich, die er in seine Atelierräume verwandelte. In dieser Halle sieht man Kiefer in „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ nun mit dem Fahrrad seine Kreise drehen, umgeben von massiven, ausgebrannten und mit Kränen gehängten „Landschaften“, die Kiefer mit Stahlkocher und Flammenwerfer malträtiert.
Wenders bringt Kiefers Skulpturen ins Schweben
Wim Wenders’ unendliche Neugier ist auf die Kunst und an neuen Weltbildern hat eines der schönsten Œuvres im Kino hervorgebracht, mit Filmen über den Buena Vista Social Club, den Mythos Amerika bis zu den deutschen Seelenlandschaften, die sich nach dem Nullpunkt der Geschichte erst wieder ihren Weg über der Besinnung auf eine essentialistische Menschlichkeit bahnen mussten. In letzterem Punkt könnte die 1970er-Filme von Wenders gar nicht weiter vom Werk Kiefers entfernt sein, der sich bevorzugt am deutschen Mythos und dessen Spuren in der Welt abarbeitete.
Wenders und Kiefer sind so ein gutes Match, gerade weil ihre Arbeiten – anders etwa als im Fall der Fotografie Sebastião Salgados – so wenig Berührungspunkte aufweisen. Das Deutsche, das bei Kiefer so massiv im Zentrum alles Denken steht ist bei Wenders ein negativer Raum. Dieses Mächtige, was dann – auch das ist eine Erkenntnis von „Anselm“ – in den eigenen Worten des Künstlers wie ein Soufflé in sich zusammenfällt, bringt Wenders in seinen hochaufgelösten 3D-Bildern ins Schweben. Er ist neben James Cameron der letzte Regisseur, der noch an die erzählerische Kraft stereoskopischer Bilder glaubt.
Hier ploppt nichts aus der Kinoleinwand heraus, Wenders spürt vielmehr in die Bilder hinein. Kiefers Skulpturen stehen fast beweglich wie Mobilés im Raum, das Kino selbst wird plötzlich skulptural. „Anselm“ bezeugt nicht nur, wie weit die 3D-Technologie jenseits von Marvel-Schlachtentableus inzwischen ist, sondern dass Wenders mit seinen 77 Jahren und Kraft seiner schieren Neugier immer noch zu leisten fähig ist. Denn letztlich ist 3D als filmisches Mittel im Jahr 2023 natürlich ebenso ein Anachronismus wie die Kunst von Anselm Kiefer und seine früher mal umstrittenen Großkünstler-Haltung zur Bewältigung der deutschen Geschichte.
Aber Bilderpolitik wird in Cannes sowieso meist zweitrangig behandelt, darum unterliegt die Kunst Kiefers auch keiner neuen Betrachtung. Hier treffen zwei deutsche Künstler aufeinander, Wenders ist ein Stammgast in Cannes, wo er 1984 mit „Paris Texas“ die Goldene Palme gewann. Auch in diesem Jahr ist er wieder im Wettbewerb dabei: Wenders hat – wie sein chinesischer Kollege Wang Bing – zwei Filme mit an die Croisette gebracht, die an den gegenüberliegenden Enden seines Kinos firmieren. „Perfect Days“, der am Schluss des Festivals läuft, erzählt auf lakonisch-komische Weise die Geschichte eines schweigsamen Toilettenreinigers in Tokio. Und ist gleichzeitig eine staunende Typologie von japanischen Toiletten-Designs. Ein echter Wenders eben.