Willkommen in Berlin, dieser visionären und provinziellen Stadt!
40 000 Plätze, jede Nacht, unglaublich: Barrie Kosky schwärmt vom Riesenangebot des Berliner Kulturlebens und singt eine von Dissonanzen durchsetzte Hymne auf die Hauptstadt. Den Herbst- Fellows der American Academy rät er in seiner Keynote: „Walk around and get lost“. Gehen Sie raus, verirren Sie sich!
Einen besseren Gastredner als den Intendanten und Chefregisseur der Komischen Oper hätte die Academy sich zur Begrüßung der neuen Stipendiaten kaum in ihre Villa am Wannsee holen können – Academy-Präsident Daniel Benjamin begrüßt ihn seinerseits freudig. Bei allem Enthusiasmus für die ja eigentlich wenig ansehnliche, chaotische Metropole, deren leidenschaftliche Auseinandersetzung über die eigene Identität der Regisseur mit jüdischen, osteuropäischen und australischen Wurzeln so ungemein liebt, weist Barrie Kosky auch auf die Widersprüche und Defizite hin.
Berlin, erklärt er, sei ein Ort der spektakulären Visionen und der schrecklicher Provinzialität, voller Schätze, die die Jammer-Berliner oft gar nicht wahrnehmen, voller Diskussionen über Multikulti und das Andere, während die Stadt ihrer eigenen Diversität viel zu wenig Rechnung trägt.
Wo ist das Kulturzentrum für die türkische Community, 60 Jahre nachdem die ersten Gastarbeiter ins Land kamen?, fragt Barrie Kosky. Am Vorabend des Eröffnungsfestakts im Humboldt Forum (siehe S. 19) macht er zudem keinen Hehl daraus, was er von der Schlossreplik samt Kuppelkreuz und ethnologischen Sammlungen mitten in Berlins Mitte hält. Herzlich wenig. Kosky bezeichnet das Humboldt Forum (und die mit dem Palast der Republik abgerissene Ost-West-Historie) unverhohlen als riesige Metapher dafür, wie man im 21. Jahrhundert eben gerade nicht mit der eigenen Geschichte und dem Kolonialismus umgehen soll. Hier laufe etwas spektakulär falsch.
Speed-Dating: Projekte in drei Minuten pitchen, das hat hier Tradition
Mit Hinweis auf seine eigenen Musiktheater-Ausgrabungen aus der Zeit der Weimarer Republik spricht der 54-jährige Opernmeister auch über die Zerbrechlichkeit der Zivilisation. Wie schnell eine Demokratie aufblühen und wieder zerstört werden kann, das zeige nicht zuletzt der Rückblick auf die 1920er Jahre.
Den Fellows aus den USA, ein Dutzend an der Zahl, dürfte Koskys Hymne auf das zerrissene Berlin gefallen haben. Als sie im traditionellen Drei-Minuten-Takt ihre Projekte für den Academy-Aufenthalt pitchen – immer wieder wunderbar, dieses akademische und literarische Speed-Dating – , verblüfft die Aktualität der Stoffe, die Konsequenz der Perspektivwechsel. Migration, Diskriminierung, Geschichtsbrüche und -kontinuitäten, Kolonialzeit, die immer gefährdete Demokratie, und vor allem Rassismus – die Themen und Vorhaben zielen ins Herz der Gegenwart.
Gleichzeitig ist das Spektrum gewaltig, von Michael J. Abramowitz, dem Präsidenten von “Freedom House”, einer Organisation, die die Gefährdung der Demokratie in Zeiten des erstarkenden Autoritarismus beobachtet, über die Beschäftigung des Historikers Johan Elverskog mit den zunächst buddhistischen Uiguren, bevor sie in China als Moslems verfolgt wurden, bis zu Juana María Rodríguez‘ Erkundung von Ikonographie und Realität lateinamerikanischer Sexarbeiterinnen.
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Die Cartoonistin Amy Kurzweil, Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden, lässt ihren Wiener Großvater in ihren Zeichnungen wieder auferstehen. Die Schriftstellerin Lan Samantha Chang, deren Eltern 1949 aus China emigrierten, schreibt einen Roman „The Family Chao“ über den Mord an einem chinesischen Restaurantbesitzer in Haven, Wisconsin, und dessen Implikationen.
Assimilation, Integration, was ist das eigentlich? Ladee Hubbard befasst sich in ihrem dritten Roman „The Descendants“ mit der Marginalisierung und Kriminalisierung von Schwarzen im Antidrogenkrieg der 80er Jahre wie mit dem Missbrauch von Afroamerikanern als Versuchspersonen bei medizinischen Experimenten. Die Rechtsprofessorin Joy Milligan erforscht die Rolle des Staats bei der Geschichte der Rassentrennung und fragt, warum die Bürgerrechtsbewegung so wenig an der Diskriminierung der Schwarzen ändern konnte.
Holtzbrinck-Fellow Channing Joseph schreibt ein Buch über Amerikas erste Dragqueen
Und die beiden Holtzbrinck-Fellows (der Tagesspiegel gehört zur Holtzbrinck Holding)? Der Investigativjournalist Alec MacGillis forscht über die politischen Folgen des Kohleausstiegs in den USA wie in Deutschland. Er wird in die Lausitz reisen, wo ihn nicht zuletzt der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Umbruch und der Beliebtheit der AfD interessiert.
Channing Joseph, Autor und Dozent an der University of Southern California, plant unter anderem Besuche im Schwulen Museum und bei der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Er schreibt ein Buch über die erste selbsternannte Dragqueen Amerika:. William Dorsey Swann gilt als der erste LGBTQ-Aktivist. Er veranstaltete Ende des 19. Jahrhunderts fantastische Crossdressing-Partys in Washington, wurde mehrfach verhaftet, ließ sich nicht einschüchtern und hatte eine große Anhängerschaft.
Als Channing Joseph die Partys seines Protagonisten anschaulich schildert, herrscht beste Laune in der Academy, eine Laune, die sich auch bei der Online-Übertragung vermittelt. Hollywood will Swanns Geschichte demnächst verfilmen.