TV-Spektakel „Die Passion“ bei RTL: Heiliger Bimbam
Ein One-Hit-Wonder aus den nuller Jahren bietet zur besten Sendezeit im Privatfernsehen live die Passion Christi mit zeitgenössischen Popsongs dar. Aus diesem Konzept lassen sich viele Fragen ableiten. Die zentrale lautet natürlich: Warum?
Nun sind die Wege von RTL nicht unergründlich. Vor zwei Jahren, die meisten Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie waren gerade aufgehoben, wurde die erste Inszenierung von „Die Passion“ aus Essen zum veritablen Medienereignis. Über drei Millionen Zuschauer, 15 Prozent Marktanteil, Platz Eins bei den Twitter-Trends.
Damals gab „DSDS“-Gewinner Alexander Klaws Jesus Christus, der zum Beispiel beim Brotkauf für das Abendmahl an der Dönerbude auf Reiner Calmund traf und später von der „Frauenknast“-Veteranin Katy Karrenbauer verhaftet wurde. Thomas Gottschalk führte als Erzähler durch den Abend, dessen Gegenstand kaum Einfluss auf die gewohnte Kalauerdichte des Moderators hatte. Das Ergebnis fiel auf mehreren Ebenen surreal aus und war in seiner Unerschrockenheit mindestens ein Faszinosum.
„Diese Geschichte ist kein Märchen“
Überraschung ob des Gaga-Formats war bei der zweiten Auflage nun kein Pfund mehr, mit dem RTL wuchern konnte. Stattdessen schockte der Sender seine Zuschauer zum Einstieg mit maximaler Ernsthaftigkeit. „Große Emotionen sind nicht einzuteilen in modern oder altmodisch. Sie sind nicht jung oder alt. Emotionen sind ewig“, erklärte Schauspieler und Umweltaktivist Hannes Jaenicke, der diesmal als Erzähler am Drücker war, und schließlich dazu aufforderte, sich „von der größten Geschichte der Menschheit“ berühren zu lassen, verbunden mit der doch etwas steilen These: „Diese Geschichte ist kein Märchen“.
Unser Bevölkerungsmittelpunkt heute ist RTL. Und Kassel soll unser Jerusalem sein.
Hannes Jaenicke
Das rigorose Plädoyer für die Bedeutung der biblischen Erzählung für die Gesamtbevölkerung stand der Rechtfertigung zwar in gewisser Weise entgegen: „Die Gesellschaft driftet mit erschreckender Geschwindigkeit auseinander. Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und die Klimakrise bedrohen unsere Gesellschaft, so Jaenicke. Heute höre kaum noch jemand zu, viele wollten nur noch meinungsstark senden und nicht mehr empfangen. Das übergreifende Motto des Abends war mit „Liebe ist alles“ immerhin unverfänglicher gehalten.
Auch die folgenden Sätze trug der Erzähler gänzlich distanzlos vor: „Unser Bevölkerungsmittelpunkt heute ist RTL. Und Kassel soll unser Jerusalem sein.“
Der Judas der Ochsenknechts
Auftritt Jesus Christus, der mit seinen Jüngern von der Deutschen Bahn „pünktlich“ (das Kasseler Publikum tobte) am Hauptbahnhof abgesetzt wurde. Den Erlöser spielte in diesem Jahr der eingangs erwähnte Kurzzeit-Teeniestar Ben Blümel, dessen Charterfolg „Engel“ von 2002 erstaunlicherweise an diesem Abend nicht zum Einsatz kam. Blümel, der seit über zehn Jahren nicht mehr auf der Bühne stand, sang und spielte mit aufrichtiger Inbrunst, ganz so als würde er gar nicht bemerken, wen man da noch so um ihn herum platziert hatte.
Denn die Besetzung der Nebenrollen mit gängigem RTL-Personal à la Joey Heindle, Larissa Marolt, oder Mola Adebisi, die bei den meisten Zuschauern Dschungelcamp- oder anderweitige Klatsch-Assoziationen wecken, untergräbt natürlich erstmal das erklärte Ziel, das Publikum emotional anzufassen. Wenn Jesus einer blind spielenden Jenny Elvers vorsichtig die Sonnenbrille abnimmt und damit schuhbürstengroße falsche Wimpern über den wundersam geheilten Augen entblößt, bleibt auch einem RTL-Connaisseur vor dem Fernseher der Mund offenstehen.
Besonders stark überlagerte die Realität die Fiktion im Fall von Jimi Blue Ochsenknecht. Jüngst fiel der Schauspieler unangenehm mit Äußerungen über seine zweijährige Tochter auf („Ich bin unfreiwilliger Erzeuger“), die auch seine berühmte Restfamilie gegen ihn aufgebrachten – nun spielte er Judas.
Auch Protestwähler haben Liebe verdient
Und es gab noch mehr Reality. Wie schon in Essen, wurde auch die Kasseler Bevölkerung zur aktiven Teilnahme am Geschehen aufgefordert und so schleppten Freiwillige ein sechs Meter langes LED-Kreuz über drei Kilometer durch die Innenstadt in Richtung Friedrichsplatz, wo sie vom Orchester, Hannes Jaenicke, Ex-No Angel Nadja Benaissa als Maria und dem vom Publikum zum Tode verurteilten Jesus nach gut zwei Stunden zum großen Finale erwartet wurden.
Immer an der Seite der Prozessierenden: Reporterin Angela Finger-Erben, die mit den fleißigen Trägern über Gott sprechen wollte. Und spätestens hier wurde es dann doch sehr unangenehm, weil die holprig vorgetragenen, (hoffentlich) wahren Erzählungen über religiöse Erweckungserlebnisse, oder Affären des Ehemannes, die nur mit Gottes Hilfe verziehen werden konnten, in Kombination mit der inhärenten Komik der Inszenierung der Lächerlichkeit preisgegeben wurden. „Gänsehaut-Momente“, wie Finger-Erben mehrmals behauptete, waren es jedenfalls sicher nicht.
Einige Kirchenvertreter allerdings, halten große Stücke auf das Format. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) schlug vor, das Event in Gemeinden oder Hauskreisen gemeinsam anzuschauen und entwickelte sogar eigenes Begleitmaterial für die Veranstaltung. Auch das katholische Bonifatiuswerk konnte nichts Verwerfliches an der „Trashifizierung“ der Passionsgeschichte finden und stand, gemeinsam mit der Deutschen Bibelgesellschaft, dem Sender im Vorfeld beratend zur Seite. Vielleicht stammten aus dieser Richtung Weisheiten mit modernem Twist wie diese Aufzählung von würdigen Nächstenliebe-Empfängern: „die abgehängten, die ungeimpften, die Querdenker, die Klimakleber, genauso wie die Protestwähler. Und sogar die treuen Kirchengänger.“
Vor Ort konnte man sich nach dem Spektakel dann noch in der Karlskirche segnen lassen. Und wie endet so ein Abend „auf der großen Passionsbühne“, an dem es um Tod, Freundschaft, Liebe, Verrat, Leiden, Vergebung und Hoffnung, also einfach um alles geht? Natürlich: mit Frauke Ludowig und einem „Exclusiv Spezial“.