Superheld mit Identitätsstörung

Manche landes- oder volkseigene Gottheiten sind international bekannt, wie etwa die ägyptischen Götter Osiris, Horus oder Ra. Zu ihnen zählt auch Khonshu: Dieser Mondgott aus dem alten Ägypten tritt nicht nur in historischen Überlieferungen, sondern auch in der Popkultur auf.

Wie alles anfing: Moon Knights erster Auftritt im Zweikampf mit dem zum Werwolf verwandelten Jack Russell.Illustration: Gil Kane und Al Milgrom, Marvel Comics

In den Marvel-Comics kommt Khonshu eine zentrale Rolle zu, als er den im Sterben liegenden Marc Spector zum düsteren Helden „Moon Knight“ werden lässt, der ab diesem Mittwoch auch eine eigene Streaming-Serie auf Disney+ bekommt.

Auch wenn Spector bereits im August 1975 in der 32. Ausgabe der Comicreihe „Werewolf by Night“ von Autor Doug Moench sowie den Zeichnern Don und Howie Perlin in Erscheinung trat, wird seine mystische Herkunftsgeschichte erst ab 1980 mit dem Start seiner Solo-Heftserie enthüllt.

Marc Spector war in seinem Leben schon vieles – Kampfkunst-Profi, Marine, Geheimdienstmitarbeiter, Boxer und Waffenexperte. Doch als Söldner auf einer Mission in Afrika eskaliert ein Konflikt zwischen ihm und dem Terroristen Raoul Bushman, als dieser den Archäologen Peter Alraune tötet. Bushman besiegt auch Spector und lässt ihn dem Tode nahe in der Wüste zurück.

Doch mit letzten Kräften kann sich der Verletzte bis zur von Alraune untersuchten Ausgrabungsstätte schleppen. Vor einer Statue des Mondgottes Khonshu kehrt er auf mysteriöse Weise ins Leben zurück, bindet sich den Umhang der Statue um und übt als Avatar des Mondgottes Vergeltung an Bushmans Schergen.

Vier Persönlichkeiten in einer

Mit einem weiterentwickelten Outfit aus Maske, Kapuze und Gewand in silbernem Weiß sowie einer Vielzahl klassischer Kampfwerkzeuge wie einem Elfenbein-Bumerang, Skarabäus-Pfeilen oder Wurfsicheln setzt er seitdem seinen Kampf gegen das Böse fort.

Mondgott Khonshu, von dem Moon Knight übernatürliche Kräfte bezieht, in einer Szene aus „Avengers“ # 33 (2018).Illustration: Javier Garrón / Marvel

Im Laufe der Zeit wurde Spectors Biografie zudem um eine markante psychopathologische Eigenschaft erweitert: Marc leidet an einer dissoziativen Identitätsstörung, landläufig als multiple Persönlichkeit bekannt.

Er lebt mindestens vier verschiedenen Alter Egos aus – und führt neben seinem Privatleben als Marc Spector und seiner Superheldenrolle als Moon Knight oder auch Mr. Knight ein weiteres Dasein als millionenschwerer Playboy-Unternehmer namens Steven Grant oder als abgebrühter Taxifahrer Jake Lockley.

Bei seinen Abenteuern wird Moon Knight in den Comics wiederholt von seinem französischen Kumpel und Hubschrauberpiloten Frenchie sowie von seiner Geliebten Marlene Alraune unterstützt. Aber er kämpfte auch schon an der Seite von Superkollegen wie Spider-Man oder dem Punisher und trat zeitweise auch Heldenteams wie den West Coast Avengers oder Captain Americas „Secret Avengers“ bei.

Über die Jahrzehnte nahmen sich zudem bereits eine Vielzahl bekannter Künstler Moon Knights turbulenten Abenteuern an: Darunter Avantgarde-Zeichner Bill Sienkiewicz, der kanadische Comic-Star Jeff Lemire, der Zeichner David Finch oder auch der britische Autor Warren Ellis.

Im Schatten von Spider-Man und Co.

An diesem Mittwoch startet „Moon Knight“ auf dem Streaming-Sender Disney+, der Titelheld wird gespielt von Oscar Isaac („Star Wars: Das Erwachen der Macht“, „Dune“). Neben den Marvel-Comics um berühmte Superhelden wie „Spider-Man“, „Der unglaubliche Hulk“ oder „Captain America“ fristet „Moon Knight“ seit den 1970er Jahren allerdings eher ein Schattendasein.

Oscar Isaac als Moon Knight in einer Szene der Marvel-SerieFoto: Marvel/Disney/dpa

Bevor Oscar Isaac die Titelrolle in der neuen Streaming-Serie auf Disney+ übernahm, hatte auch er keine Ahnung, wer oder was „Moon Knight“ ist. „Null! Ich wusste gar nichts“, sagt Isaac im Interview der Deutschen Presse-Agentur. „Dann hab ich schnell nachgeschaut und dachte: Okay, ein Superheld, der eine dissoziative Identitätsstörung hat, der jüdisch ist, aber von einem ägyptischen Gott versklavt wird! Ja, da steckt eine Menge drin.“

Der Plot der Verfilmung bedient sich in vielen Handlungssträngen direkt bei den Comics. Es beginnt damit, dass Steven Grant (Oscar Isaac) ein unauffälliges Leben in London führt. Er arbeitet im Souvenirshop des British Museums, wo er von Kollegen kaum beachtet wird, und hat wenig Erfolg bei Frauen.

Doch Steven hat eine dunkle Seite, die er selbst erst verstehen muss. Immer wieder wird er von merkwürdigen Blackouts geplagt, in denen er die Kontrolle über sich selbst verliert, eine fremde Stimme hört und mitunter gewalttätig wird. Bevor er schlafen geht, kettet er sich ans Bett.

Nach einem besonders merkwürdigen Erlebnis, der Begegnung mit dem zwielichtigen Arthur Harrow (Ethan Hawke) und der überraschenden Offenbarung, dass er mit Layla El-Faouly (May Calamawy) verheiratet ist, beginnt Steve langsam zu begreifen, was es mit der dissoziativen Identitätsstörung auf sich hat.

Die erste Folge der sechsteiligen Marvel-Serie ist eine abenteuerliche und spannende Tour-de-Force. Den Machern gelingt der Spagat zwischen absurdem Humor und spannenden, teils gruseligen Momenten. Die Actionszenen sind auf Kino-Niveau.

Ein Psychiater als Berater des Filmteams

Die Comic-Reihe von Marvel um den Helden im weißen Kostüm hat sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder radikal verändert. „Ich habe da eine Chance gesehen“, sagt Isaac. Denn, um die Serien-Figur mit Leben zu füllen, habe ihm Marvel-Präsident Kevin Feige viel kreativen Spielraum eingeräumt.

US-Schauspieler Oscar Isaac spielt die Hauptrolle in der neuen Serie.Foto: Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/dpa

Der 43-Jährige wächst quasi in einer Doppelrolle über sich hinaus. „Die ersten Monate habe ich nur als Steven gedreht, um in dieser Welt zu leben und mich einzugewöhnen“, erzählt er. „Je länger wir dabei waren, je mehr ich diese Figur beherrscht habe, desto besser konnte ich zwischen den Charakteren hin- und herspringen.“

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Eine Person mit dissoziativer Identitätsstörung zu spielen, sei eine besondere Herausforderung gewesen. „Aber das fand ich so spannend daran“, sagt Isaac. Für die Serie wurde ein Psychiater als Berater engagiert. „Sich diesem Thema zu widmen und jemandem, den das betrifft, noch dazu auf einer so riesigen Bühne wie einer Marvel-Serie, das war für uns eine echte Chance, diese große Comic-Verfilmung zu nutzen, um über etwas Echtes zu sprechen, das auf Erfahrungen basiert.“

Wohin die Reise von Steven und Marc führt und welche Rolle Layla und Arthur dabei spielen, ist noch nicht abzusehen. Gut möglich, dass wie in vorherigen Marvel-Serien beim Streamingdienst Disney+, etwa bei „WandaVision“ oder „Hawkeye“, andere bekannte Marvel-Figuren auftauchen.

Schon jetzt lässt sich sagen, dass Oscar Isaac ein neuer Star im Marvel Cinematic Universe ist. Nach dem ersten Eindruck ist „Moon Knight“ eine originelle, spannende und unterhaltsame Serie, die das Schattendasein ihrer Hauptfigur endlich beenden könnte. (mit dpa)