Eine eindringliche Performance in Berlin macht Chinas Staatsterror begreifbar

In einem großen Raum steht eine Frau in gebügeltem gelben Hemd und schwarzem Rock, am Arm eine rosafarbene Binde. Herablassend blickt sie die sieben Männer und Frauen an, die sie angewiesen hat, sich vor ihr aufzureihen. „Singt mir nach!“, blafft sie und intoniert im Gestus einer Gefängniswärterin, die in ihren Insassen ungezogene Kinder sieht, ex-akt ar-ti-ku-lie-rend: „Wir sind stolz und stark, geloben, treu zu sein! / Einigkeit – wir sind alle eins!“

Ein paar Meter weiter wird ein Mann zurechtgewiesen. „Teilnehmer, erfüllen Sie die Aufgabe!“, bellt ein Uniformierter. Sie besteht darin, die Wörter auf den Karteikarten aufzusagen, die der Beamte dem Besucher vors Gesicht hält: „modern“, „Fortschritt“, „Mutterland“. Dann noch mal. Und wieder. Schneller. Noch mal. Als der Mann bei einem Begriff zu lange braucht, schneidet der Offizielle ihm das Wort ab. „Teilnehmer, das ist keine schwierige Aufgabe!“

Propaganda durch geistlose Wiederholung

Gehirnwäsche funktioniert durch Infantilität, durch geistlose Wiederholung und die Abwesenheit jeder Komplexität in Wort und Bewegung. Das ist leicht gesagt, aber wirklich begreifen kann es nur, wer es zu spüren bekommt – so die Grundannahme der anderthalbstündigen Performance „Everybody Is Gone“, die an diesem Mittwochabend in der Alten Münze in Berlin Premiere hat und bis zum 2. August jeden Abend läuft.

Ein Schauspieler verlangt vor der Flagge der fiktionalisierten Diktatur von „Everybody Is Gone“, Schlüsselbegriffe aufzusagen.Foto: Cornelius Dieckmann/TSP

Die Macherinnen bezeichnen sie mit dem Attribut „immersiv“: Besucher sollen körperlich teilnehmen an einer Begebenheit, die das Team um die uigurische Tänzerin und Musikethnologin Mukaddas Mijit und die US-Journalistin Jessica Batke als Mischform aus Theater, Journalismus und Ausstellung bezeichnet.

Der Titel beschreibt die klaffenden Lücken, die die staatliche Kampagne der „Umerziehung“ in die uigurische Minderheit in der Autonomen Region Xinjiang gerissen hat. Die Fakten und Zahlen von Pekings Regierungsterror sind aus Enthüllungen wie den „China Cables“ oder zuletzt den „Xinjiang Police Files“ bekannt. Eine Million zum Beispiel – so viele Uiguren, Kasachen und andere Minderheitenangehörige wurden in Lager gesperrt, einige Schätzungen sind noch höher. Aber Zahlen allein sind kühl.

Seltsame Fragen und eine Sicherheitskontrolle

„Seit 2018 überlege ich, wie man am besten vermittelt, was in China passiert“, sagt Jessica Batke. „Das geschriebene Wort aus der Berichterstattung erreicht immer dieselben Leute, und nur wenige interessieren sich wirklich für dieses Thema.“ Das Team habe deshalb ein dezidiert physisches Format gewählt, das „instinktiv“ spürbar machen solle, wie der Überwachungsstaat funktioniert.

Besucher werden aufgefordert, im Gleichtakt militärisch anmutende Übungen nachzumachen.Foto: Cornelius Dieckmann/TSP

Wer den Aufführungsraum betritt, findet sich unvermittelt in einer Sicherheitskontrolle wieder. Von allen Seiten sind Videokameras auf einen gerichtet, deren Bilder auf Monitoren erscheinen. Eine Erklärung erfolgt nicht, dafür eine so wortkarge wie unfreundliche Befragung durch die uniformierten Schauspieler. Name? Haben Sie Führungserfahrung? Jemals Stimmtraining erhalten? Ein wenig hat das was von Flughafen. Ein wenig aber auch von JVA. Man fühlt sich stets verdächtigt, auch wenn einem nie explizit ein Vorwurf gemacht wird.

Die Worte „China“ oder „Uiguren“ fallen indes in der ganzen (englischsprachigen) Performance nicht. „Niemand soll hier Uigure spielen oder das Gefühl haben, dies sei Agitprop“, erklärt Batke. Es gehe um die Methoden der Zwangsherrschaft und Gehirnwäsche, wie es sie in Diktaturen allgemein gibt.

„Singt mir nach!“, blafft die Beamtin die Teilnehmer an: „Wir sind stolz und stark, geloben, treu zu sein!“Foto: Cornelius Dieckmann/TSP

Diktion und Art der Indoktrinierung lassen dennoch eindeutig auf die Volksrepublik schließen. Teilnehmer werden genötigt, Videos aufzunehmen, in denen sie einen Text aufsagen: „Unsere Nation und unser Dorf gewinnen jeden Tag an Prosperität.“ Das mit erzwungenem Lächeln eingesprochene Video ist ein verbreitetes Werkzeug der KP Chinas in Xinjiang, bis hin zur Denunzierung von Verwandten. Das eingangs erwähnte Lied hat, erst später fällt es einem auf, die Melodie des Propagandalieds „Ohne die Kommunistische Partei gäbe es kein Neues China“.

Eine Datenbank aus staatlichen Veröffentlichungen

Alles daran ist albern, nichts daran ist lustig. Wer meint, das sei zu platt inszeniert, um glaubhaft zu sein, wird von der eindrücklichen Datenbank aus staatlichen Quellen, Propagandatexten und Artikeln unabhängiger Medien eines Besseren belehrt, die man hinterher über einen QR-Code einsehen kann.

Als eine Besucherin während eines „Dorftreffens“ etwa unter Leitung der Partei eine vorformulierte Selbstkritik vorträgt, erhält sie von den Beamten zur Belohnung – oder Erniedrigung – eine Packung Desinfektionstücher. In der Datenbank sind, gleichsam als Fußnote, Bilder von Uigurinnen zu sehen, die für ihr vorbildliches Verhalten Wischmopp und Eimer geschenkt bekommen. Auch der schauerliche Satz, man wolle den Dorfbewohnern beibringen, „dass Glück nur durch Mühsal“ erreichbar sei, ist ein wörtliches Zitat aus einer Regierungsquelle.

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„Die Form, die wir gewählt haben, erinnert ein wenig an die uigurische Tradition des Meshrep, eine informelle Zusammenkunft, in der alle Anwesenden Performer und Publikum zugleich sind“, sagt Mukaddas Mijit, die künstlerische Leiterin. Die in Urumqi geborene Uigurin zog 2003 im Alter von 21 Jahren nach Frankreich. Im Exil widmet sie sich der Kultur ihrer Heimat. „Ich habe ständig Angst, dass meinen Verwandten, die noch dort sind, etwas passieren könnte“, sagt sie. Trotzdem sie sie eines der Mitglieder der uigurischen Gemeinschaft, die Glück hatten, weil zumindest ihre Eltern nicht mehr in Xinjiang seien und sie selbst ihre Stimme erheben könne.

Die uigurische Tänzerin und Musikethnologin Mukaddas Mijit (Mitte) verließ 2003 ihre Heimat und lebt seitdem in Frankreich.Foto: Cornelius Dieckmann/TSP

Ob sie Hoffnung habe? „Irgendjemand hat mal gesagt: Ich habe das Wort Hoffnung aus meinem Vokabular gestrichen und mit Kampf ersetzt“, sagt Mijit.

Wichtig sei ihr, dass man die Performance nicht mit dem Gefühl verlasse, dies sei eine spezifische uigurische Erfahrung, die in einem fremden Erdteil mit fremden Menschen endet. Erst zum Schluss des Events werden eigens aufgenommene Video-Interviews mit Uiguren gezeigt, die aus China ausreisen konnten.

Staats- und Parteichef Xi Jinping hat Mitte Juli erstmals seit Beginn des Crackdowns gegen die Uiguren die Region Xinjiang besucht. Laut dem Staatsorgan „China Daily“ betonte er dort die Bedeutung „ethnischer Einigkeit“.
Die Kraft von „Everybody Is Gone“ liegt nicht nur darin, dass der Besucher hinterher weiß, dass Einigkeit in Xinjiang immer Einheitlichkeit bedeutet. Sondern man wacht auch am nächsten Morgen mit einem nagenden Ohrwurm auf. „Wir sind stolz und stark, geloben, treu zu sein …“

„Everybody Is Gone“. Alte Münze, 27. Juli bis 2. August, 19.30 Uhr. Tickets nur unter everybodyisgone.org, keine Abendkasse.