Die Tragik hinter der Goldmedaille von Florian Wellbrock
Wenn man Florian Wellbrock am Donnerstag etwas vorwerfen konnte, dann dass er dieses Rennen über zehn Kilometer im Freiwasser derart langweilig gestaltete. Von Beginn an kraulte der Deutsche der Konkurrenz davon. Am Ende kam er mit rund 25 Sekunden Vorsprung in der Tokioer Bucht ins Ziel. 25 Sekunden sind auch über zehn Kilometer im Schwimmen Welten.
Vielleicht hätte der ein oder andere Zuschauer sich zumindest einen kleinen Gefühlsausbruch des 23-Jährigen gewünscht. Doch der Hanseate stieg seelenruhig und ohne große Mimik aus dem Wasser, wie das so mancher Rentner in den frühen Morgenstunden tut. Dann nahm Wellbrock eine Wasserflasche und spritzte sich das Gesicht ab.
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Etwas später wurde er zumindest ein bisschen emotionaler. „Es fühlt sich surreal an“, sagte er der ARD und bemerkte: „Das hat es lange nicht mehr gegeben, eine Goldmedaille für einen deutschen Schwimmer.“
Tatsächlich hat es das sehr, sehr lange nicht mehr gegeben für die deutschen Männer. Die älteren Semester werden sich noch erinnern, es war 1988, als Michael Groß bei den Olympischen Spielen in Seoul zwei Goldmedaillen gewann. Damals holte auch Uwe Daßler Gold für die DDR. Der Name Groß, Spitzname „Albatros“ wegen der großen Reichweite seiner Arme, steht gleichsam für Triumph wie für Verfall des deutschen Schwimmens. In der Spitze tut man sich seitdem hierzulande schwer.
2012 in London und vier Jahre später in Rio ging der Deutsche Schwimm-Verband komplett leer aus. Das Ergebnis in Tokio mit zwei Bronzemedaillen und der goldenen durch Wellbrock ist angesichts dieser Bilanz ein großer Erfolg. Vielleicht ist bald nicht mehr nur von den alten Heldentaten des Albatros die Rede. Zumal, so unprätentiös er den Sieg auch auskostete, Florian Wellbrock einen irrsinnig guten Wettkampf über die zehn Kilometer ablieferte.
Es war warm wie im Thermalbad
Die Bedingungen waren dabei alles andere als leicht. Sie waren sogar extrem schwer. 29,3 Grad betrug die Wassertemperatur, bei solchen Wärmegraden legt man sich für gewöhnlich ins Thermalbad. Wellbrock und seine Konkurrenten mussten aber 10.000 Meter in allerhöchstem Tempo kraulen. Und mit Abstand am besten in dieser – auf Deutsch gesagt – warmen Plörre kam Wellbrock zurecht. Er legte wahnsinnig schnell los. Schon nach einer Minute lag er klar vorne. Und als er an der ersten Boje vorbeischwamm und einen Blick auf die Verfolger werfen konnte, habe er – so erzählte er es später – sich gefragt: „Jungs, wollt ihr gar keinen Wettkampf heute?“
Vermutlich wollten sie. Doch sie konnten nicht. Claudio Catuogno von der „Süddeutschen Zeitung“ beschrieb den phänomenalen Schwimmstil Wellbrocks, „als wäre er in einem anderen Element unterwegs, als kraule er durch Sahne“. Für seine Rivalen, die sicher mit einem Einbruch angesichts des irrwitzigen Tempos rechneten, war das Rennen nicht nur eine Tortur, sondern wegen des Rückstandes eine Demütigung. „Ich brauche noch ein bisschen, um das zu realisieren“, sagte Wellbrock.
Die Goldmedaille ist der Lohn jahrelanger Arbeit für den Sport. Schon als Kind träumte er von einer großen Schwimmkarriere. Er musste dabei einen schweren Schicksalsschlag verkraften. 2006, Wellbrock war neun Jahre alt, starb seine 13 Jahre alte Schwester vor einem Schwimmwettkampf. Die Ursache ist unbekannt.
Wellbrock hielt trotzdem an seinen Zielen fest, wechselte im Alter von zehn Jahren an die Sportschule Bremen. Mit 17 ging er nach Magdeburg, wo er die besten Bedingungen vorfand, um seine sportlichen Ziele wahr werden zu lassen.
Wellbrock gilt als ruhiger und reflektierter Typ, dessen Lebensinhalt nicht allein der Sport ist. Den Satz „Genieß dein Leben ständig, du bist länger tot als lebendig“ trägt er als Tattoo auf seiner Brust. Es ist eine Zeile aus dem Lied „Fühl dich frei“ von Rapper Sido.
Schwer zu sagen, ob Florian Wellbrock am Donnerstag dieses höllische Rennen genossen hat. In jedem Fall machte er den Eindruck, als würde er sich frei wie ein Fisch durchs Wasser bewegen.