Das Innere der Burg

The Partisan Review“ oder der „New Yorker“ – das waren in den vierziger und fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stilprägende Zeitschriften. Viele später berühmte Autorinnen und Autoren haben dort ihre ersten Schritte gemacht und Texte geschrieben, bekamen Raum und Freiheit, sich auszuprobieren und Schreibweisen weiterzuentwickeln.

Jean Stafford hatte 1947 im Alter von 32 Jahren ihren zweiten Roman „Die Berglöwin“ veröffentlicht und in den literarischen Zirkeln der Zeit Anerkennung gefunden. Während ihr das private Leben zunehmend entglitt – die erste Ehe mit dem Dichter Robert Lowell stand kurz vor dem Aus, ihr Alkoholkonsum nahm bedenkliche, gefährliche Ausmaße an, und die finanziellen Verhältnisse waren prekär – , sollten sich ihr als Schriftstellerin viele Türen plötzlich öffnen.

Die Erzählung, in der sie sehr viel prägnanter und präziser immer wieder neue Situationen erkunden und psychologisch extreme Figuren auftreten lassen konnte, wurde zu der ihr eigenen Form. Vor allem im „New Yorker“, aber auch in der „Partisan Review“ und einigen anderen literarischen Magazinen erschienen ihre Texte, die später in Sammlungen eingingen und ihr unter anderem den Pulitzer Preis bescherten.

Stafford war mit Robert Lowell verheiratet

Nun lassen sich elf ihrer Geschichten in der sehr gelungenen Übersetzung von Adelheid und Jürgen Dormagen entdecken, veröffentlicht im Zürcher Dörlemann Verlag. (336 Seiten, 26 €.)

Und sie sind wirklich eine Entdeckung: „Das Leben ist kein Abgrund“ lautet der doch eher euphemistische Titel dieser Zusammenstellung. Denn in genau solche Abgründe blicken ihre Figuren immer wieder. „So absolut und hartnäckig war die Unbeweglichkeit ihres Körpers, als wären das Zimmer und die vom Eis erstarrte Landschaft Erweiterungen ihres Selbst. Ihre beharrliche Ruhe und ihre Abneigung zu sprechen, wobei eins vom anderen herzurühren schien, ähnelten, so die Meinung der Krankenschwestern, einem Koma im Endstadium. Und sie bemerkten mit mitleidiger Entrüstung, dass sie bei dem bisschen Interesse, das sie am Leben hatte, genauso gut tot sein könnte.“

„Die innere Burg“, wie diese Geschichte übertitelt ist, erzählt von Pansy, die nach einem Autounfall, entstellt und seelisch ermüdet, viele Wochen im Krankenhaus zubringen muss. Die junge Frau baut eine Mauer um sich herum; sie freut sich diebisch, dass sie das Personal in die Irre führt und sich einen Ort erschafft, in den niemand vorzudringen vermag. Sie zieht sich in ihr Gehirn zurück, und doch nimmt sie mit äußerster Schärfe und kühler Genauigkeit die Außenwelt wahr, den Operationssaal, die Dinge, die mit ihr geschehen.

[Alle wichtigen Updates des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter “Fragen des Tages”. Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]

Man könnte von einer Übersensibilität sprechen, von synästhetischen Erfahrungen. Pansy durchwandert den Schmerz, der nicht allein ein körperlicher zu sein scheint, oder besser: Der Schmerz durchfährt sie.

Übrigens muss man nicht wissen, dass Jean Staffords Mann Robert Lowell in betrunkenem Zustand mit dem Auto und ihr als Beifahrerin gegen eine Mauer gerast ist und die junge Autorin mehrere Operationen über sich ergehen lassen musste, um die Erfahrungstiefe dieser bitteren Erzählung zu spüren. Jean Stafford verfügt über eine ungeheure Beobachtungsgabe für innere Vorgänge, dazu mitunter über einen ironischen Ton, der die Lächerlichkeit der unwirklich erscheinenden Situationen aufbricht.

Viele der Geschichten der heute zu Unrecht fast vergessenen Autorin sind seinerzeit bewundert und gefeiert worden, von Kollegen und Lesern. „Im Zoo“ heißt eine davon. Zwei Schwestern werden beim Besuch eines Tierparks an ihre Kindheit erinnert. In der Rückschau auf die schauerliche Zeit bei einer Pflegemutter, hüllt sich auch die Gegenwart geradezu in ein Dunkel.

Fluchtwege gibt es für ihre Figuren keine

Am Ende weiß man nicht, ob die beiden Schwestern in resignierter Verlorenheit oder mit sarkastischem Überlebenswillen auseinandergehen. „Zwei Stunden später stehen wir neben meinem Zug und halten uns wie Ertrinkende fest umarmt. Wir sollten zum nächsten Polizisten gehen und sagen: ‚Wir sind unzurechnungsfähige Frauen. Sie müssen sich um uns kümmern, weil wir uns nicht um uns selbst kümmern können.’ Aber allmählich lässt der Sturm der Erregung nach.“

Erinnerungen, die plötzlich auftauchen; der unmerkliche Übergang aus einem unschuldigen Bewusstseinszustand in die Unberechenbarkeit des Lebens; zögerliche Annäherungen von Liebesmüden; das Auseinanderdriften in je eigene Einsamkeiten; die subtilen, hilflosen und mitunter gemeinen Spiele erwachsener Geistesmenschen: Das sind die Themen der Schriftstellerin Jean Stafford, und ihr Blick darauf ist ganz unkorrumpiert.

Sie lässt ihren Figuren keine einfachen Fluchtwege, aber wahrt doch deren Würde, weil es ihnen gelingt, das Treiben um sich herum zu durchschauen.

Am deutlichsten wird das vielleicht in der allerletzten dieser elf Geschichten. Sie heißt „Ein Andrang von Dichtern“ und handelt von Verrat, Betrug, Scheitern und einer äußerst merkwürdigen Apathie: „Dieser schreckliche Sommer! Jeder Dichter in Amerika kam zu uns und blieb. Es war der erste Sommer nach dem Krieg, und die Menschen hatten wieder Benzin und konnten fahren, wohin sie wollten, und alle diese Dichter kamen in unser Haus in Maine und blieben wochenlang (…).“

Im Nachwort weist Jürgen Dormagen zwar darauf hin, dass sich die Vorbilder der auftauchenden Protagonisten leicht ermitteln lassen – Jean Stafford war Teil des damaligen Literaturbetriebs. Aber es ist keine Enthüllungsgeschichte, sondern die einer Desillusionierung. Wie Stafford diese schildert, lässt an eine Selbstaussage der 1979 gestorbenen Autorin denken. Sie schreibe, sagte Jean Stafford einmal, mit der „Stimme eines Leichenbestatters“ – unaufgeregt, leise, aber doch unbestechlich und rücksichtslos. Ein Bestatter kann nun einmal beim besten Willen nicht beschönigen, womit er sich beschäftigt.