Der Blick ist das Ziel
Ruinen sind sichtbar gewordene Zeit. Stolze Bauten und Lieblingsorte zerfallen, einstige Kostbarkeiten werden zu Schrott. Die Relikte der Vergangenheit entzünden die Fantasie. Gedächtniskirche, Anhalter Bahnhof: Berlin und Potsdam haben Ruinen als Wahrzeichen. Auch wenn die Städte längst nicht mehr ruinös aussehen, hat der Zahn der Zeit Spuren hinterlassen. Unsere Sommerserie folgt ihnen.
Jupiter, Venus, Merkur, Apollon oder Juno unten am Fontänenrondell. Über dieser Figuren- und Götterversammlung hinauf zu den Weinbergterrassern. Oben rechts das Grab Friedrichs des Großen, links die Kleopatra-Skulptur. Vor einem dann die Schlosskuppel und das rund hervortretende Mittelteil mit dem Motto: das Schloss „Sans Souci“ in Potsdam. Ein paar Schritte drum herum, an der Figur des betenden Knaben vorbei, im Ehrenhof verengen die Kolonnaden den Blick und geben ihn am Zaun wieder frei. 600 Meter Luftlinie entfernt steht vor uns – der Ruinenberg.
Der Professor kennt jede Skulptur
Wie oft ist man diesen Weg schon gegangen, hat den Fernblick erhascht, von Touristen die Frage nach dem Sinn des „Ruinenbergs“ gehört, und doch ist es an der Seite von Marcus Köhler wie beim ersten Mal. Der Professor für Geschichte der Landschaftsarchitektur und Gartendenkmalpflege an der TU Dresden ist mit seinen Studenten wohl schon hundert mal hier gewesen. Merkur, Juno oder Kleopatra – Köhler kennt jede Skulptur, jede Figur und ihre Geschichte in den Potsdamer Schlössern und Gärten, hat dem Werk Friedrich Wilhelms II. in dem Buch „Tod, Glück und Ruhm in Sanssouci – Ein Führer durch die Gartenwelt Friedrichs des Großen“ zusammen mit Adrian von Buttlar ein weiteres Denkmal gesetzt.
Ein im wahrsten Sinne des Wortes bedeutendes Denkmal. Die Wissenschaftler unterteilen den Garten in eine „Achse der Macht“ (vom Obelisk im Osten nach Westen hin zum Neuen Palais) und eine „Achse der Erkenntnis“, von Süd nach Nord, eben vom Parterre, dem Eingangsrondell, hoch zum Schloss und dahinter zum überraschenden Point de vue mit dem Ruinenberg. Ein Schlüssel zum inhaltlichen Verständnis der weltberühmten Gartenanlage Friedrichs des Großen. Tatsächlich wurde der Garten von Sanssouci unter seiner eigenwilligen Regie zum Spiegelbild seiner persönlichen und politischen Rolle.
Der Park als Friedrichs Spiegelbild
Die Prämissen der Kunsttheorie würden an dieser Stelle zu weit führen. Köhler könnte darüber stundenlang reden, aber er will jetzt mit dem Journalisten auf den Ruinenberg. Nur wie? Kein schnurgerader Weg führt hinüber. „Das ist gemein von Friedrich dem Großen, nicht? Der Mann denkt theatralisch.“ Köhler, am Zaun im Ehrenhof stehend, zeigt zur Anhöhe rüber. „Das ist als Fernsicht gedacht, man muss da gar nicht herüber laufen.“ Sondern dreidimensional denken, wie beim Blick auf eine Vedute, eine wirklichkeitsgetreue Darstellung einer Landschaft oder eines Stadtbildes.
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Der Blick ist das Ziel. Der aufstrebende, quasi zur Erkenntnis der Landschaft (und seiner selbst) führende Weg des Gartenbesuchers, ähnlich der Erfahrung Petrarcas bei der Besteigung des Mont Ventoux im Jahr 1336, der Entdeckung der Natur als Landschaft.
Die Bergkuppe als Ort der Schau. Dabei schadet es in Sanssouci nicht, neben der Lust auf Parks und Gärten, angesichts der zahlreichen mythischen Figuren, Ovids „Metamorphosen“ im Gepäck zu haben. Und auch die Philosophie Friedrichs des Großen (dessen Todestag sich in dieser Woche zum 335. Mal jährte), der Glaube an eine Transzendenz in die göttliche Einordnung des natürlichen Universums.
Ruinen erinnern an die eigene Vergänglichkeit
Wer oben am Schloss, wie zur Belohnung nach dem Anstieg, 600 Meter Luftlinie vor dem Ruinenberg angekommen ist, der sollte nicht nur Blicke genießen, sondern sich bestenfalls der Unsterblichkeit der Seele bewusst sein. Und verstehen, was es mit dem Namen dieses – vom Schloss aus unerreichbar erscheinenden – Bergs gegenüber mit dem Normannischen Turm als Spitze und den Ruinen-Gemäuern auf sich hat: der Anblick des verfallenen Roms als eine Art Memento mori. Sei dir der Sterblichkeit bewusst. Aber auch: Et in arcadia ego.
Schöne Gedanken an einem schönen Ort. Die bloßen Fakten zu Bau und Architektur des Ruinenbergs sind dagegen fast schnöde. Der Potsdamer Autor Wolfgang Mörtl hat sie in seinem „Bergführer Potsdam“ zusammen gefasst. König Friedrich II. wünschte sich verschiedene Wasserspiele im Park Sanssouci. Um diese zu betreiben, wurde auf dem Hügel hinter dem Schloss ein Hochbassin angelegt.
Durch das von dort in Rohren herunterlaufende Wasser sollten Fontänen und andere Wasserkünste ermöglicht werden. Dazu wurde der Baumbestand auf dem Höneberg, wie er damals hieß, gefällt. Um den dadurch entstandenen unschönen Anblick zu verbessern, griff man auf Pläne des Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff zurück und entwarf, entsprechend der damals aufkommenden Mode, sich die Vergänglichkeit vor Augen zu halten, eine künstliche Ruinenlandschaft.
Wer heute von Sanssouci aus auf den Ruinenberg blickt, muss wissen, dass er zu Lebzeiten Friedrichs des Großen noch anders aussah. Sowohl der Kaskadenbrunnen am unteren Ende der Sichtschneise als auch der derzeit wegen Corona geschlossene 23 Meter hohe Normannische Turm, von dem man bis zur Pfaueninsel schauen kann, gehen auf das Konto seines Nachfahren Friedrich Wilhelm IV., der damit den Baumeister Ludwig Persius und den Gartenarchitekten Peter Joseph Lenné beauftragte.
An der Wasserkunst scheiterten des Königs Baumeister
Friedrich II. selbst war es nicht vergönnt, die Wasserkünste in Aktion zu erleben. Das technische Problem, das Mitte des 18. Jahrhunderts nicht gelöst werden konnte, bestand darin, das Wasser aus der Havel in das Hochbassin zu befördern. Es gab verschiedene Versuche, den Höhenunterschied von etwa 45 Metern zu überwinden. Erst hundert Jahre später gelang es, die Aufgabe zu meistern, dank einer Dampfmaschine, mit deren Hilfe das Wasser in das Becken auf dem Ruinenberg gepumpt werden konnte.
Friedrich Wilhelm IV., der als der Romantiker auf dem Thron bekannt wurde, ließ das Gelände des Ruinenberges künstlerisch gestalten, gemäß Lennés Prinzipien, das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden. Am Panoramaweg beispielsweise, einem Teil des Lenné’schen Wegenetzes, steht am Rande der Seekoppel die „Römische Bank“. Von ihr hat man einen schönen Blick zum Krongut Bornstedt und zur Bornstedter Kirche.
Es lohnt sich also, vom Schloss weg Richtung Ruinenberg zu spazieren. Den Ehrenhof links hinunter, über die Straße „Historische Mühle“, krumme Schotterwege unter Bäumen bergauf, 74 Meter hoch. Nach 15 Minuten Fußmarsch die Ruinenstaffage vor einem: vier ionische Säulen, drei stehende, eine angelehnt, wie umgestürzt, dazu 16 dorische Säulen und ein gewölbtes, an einer Seite künstlich beschädigtes Kuppeldach. Memento mori, mindestens so erhaben und atemberaubend wie der Blick aufs Schloss Sanssouci beim Umdrehen, auch wenn sich hierher an einem der wenigen schönen Sommertage in dieser Woche mittags nur eine Handvoll Touristen verirren.
Die Dürre hat den Bäumen zugesetzt
Vor lauter Fern-Blicken übersieht man fast der Baumbestand. Friedrich II. hatte einst Tausende von Bäumen und Sträuchern entweder aus brandenburgischen Wäldern zusammensuchen oder aus Baumschulen in England und den Niederlanden nach Potsdam schiffen und anpflanzen lassen. Überlebt hat von Friedrichs Bäumen bis auf einige Hainbuchen wohl kaum einer. Laut der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten trockneten in den Dürrejahren 2018 bis 2020 auf der sandigen Kuppe des Ruinenberges zahlreiche Baumkronen ein. Schilder warnen „Betreten verboten“, es läuft ein Programm zur Gehölzregeneration.
Rund 72 000 Besucher kamen im vergangenen Jahr in Friedrichs Gärten, ohne Corona waren es deutlich mehr. Viele sind verwundert, dass dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung die Ruinen zwischen Potsdam-Bornstedt im Westen und der Jägervorstadt immer noch nicht beseitigt wurden. Dann ist hoffentlich ein Kundiger in der Nähe, der weiß, dass der Verfall künstlich angelegt wurde. Und vom Genuss der ästhetischen Erscheinung. der Kraft der Kontemplation und den verborgenen Sinngehalte schwärmt. Einen schöneren Spaziergang als zu diesem Gipfel der Stadt, dem Ruinenberg, hat Potsdam nämlich nicht zu bieten.