Hitzige Diskussionen über die Rolle von Joshua Kimmich
Die französische Sportzeitung „L’Équipe“ hat vor dem EM-Auftaktspiel der französischen Nationalmannschaft gegen Deutschland dieser Tage ein bemerkenswertes Foto aufgetrieben. Es wurde 2009 bei einem U-15-Turnier in Nantes aufgenommen und zeigt vier junge Burschen im Trikot des VfB Stuttgart. Drei von ihnen tragen ziemlich bekannte Gesichter, auch wenn man schon etwas genauer hinschauen muss.
Ganz links ist Timo Werner zu erkennen, mit exakt der gleichen Miniplifrisur, die Dirk Hupe von Arminia Bielefeld in den Achtzigern getragen hat; Serge Gnabry (mit praktischem Kurzhaarschnitt) ist dabei und ganz rechts ein Hänfling, der die Kapitänsbinde um sein dünnes Ärmchen trägt. Der ernste, etwas angestrengte Blick verrät ihn. Es handelt sich um Joshua Kimmich.
Zwölf Jahre später sind die drei Teenager von einst immer noch Teamkollegen. Allerdings schon lange nicht mehr beim VfB Stuttgart, sondern in der deutschen Nationalmannschaft. Alle drei haben es früh in den Profifußball geschafft, alle drei haben es weit gebracht. Am weitesten ist der Hänfling gekommen, der damals schon die Kapitänsbinde getragen hat.
Schon immer Mittelfeldspieler
Joshua Kimmich war auch der Erste der drei, der es in die Nationalmannschaft geschafft hat. Vor fünf Jahren, unmittelbar vor der Europameisterschaft in Frankreich, feierte der Münchner sein Debüt, im zweiten Vorrundenspiel der EM stand er dann erstmals in der Startelf. Und daran hat sich seitdem nichts Grundlegendes geändert. Von den 62 Länderspielen seither hat Kimmich 55 bestritten, so viele wie kein anderer.
Dass Kimmich, 26, spielt, steht außer Frage. Nur wo er spielt – darüber werden vor dem zweiten EM-Spiel der Deutschen an diesem Samstag gegen Portugal (18 Uhr, ARD und Magenta TV) hitzige Debatten geführt. „Grundsätzlich kann ich auf vielen Positionen spielen“, hat Kimmich am Freitagabend gesagt. „Mal sehen, welche es morgen wird.“
Vermutlich die, die es auch gegen Frankreich war. Dadurch ist Kimmich jetzt wieder da angekommen, wo für ihn alles begonnen hat.
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In den ersten beiden Jahren in der Nationalmannschaft hat er rechts in der Viererkette verteidigt, bis Bundestrainer Löw ihn nach der verkorksten WM 2018 ins Zentrum des Spiels versetzt hat. Kimmich ist immer schon Mittelfeldspieler gewesen; er gilt auf der Sechs als einer der besten der Welt, weil er alle Fähigkeiten für diese Position mitbringt: die fußballerische Technik, das Spielverständnis und einen kaum zu bändigenden Ehrgeiz noch obendrauf.
„Vergleichbar mit Philipp Lahm“
Das Problem ist: All das prädestiniert ihn auch für viele andere Rollen. Unter Pep Guardiola, dem Philosophen unter den Fußballtrainern, hat Kimmich in seiner ersten Saison beim FC Bayern München als Innenverteidiger gespielt, obwohl er mit 1,76 Metern nicht unbedingt dem Ideal für diese Position entspricht.
„Der Jo ist vergleichbar mit Philipp Lahm“, sagt Bundestrainer Löw. „Er kann völlig problemlos auf unterschiedlichen Positionen spielen, bringt überall die gleiche Leistung, die gleiche Qualität.“
Der Jo könnte wahrscheinlich auch ohne Probleme eine Spülmaschine installieren, sodass sie anschließend funktioniert. „Ob im Mittelfeld oder rechts oder in der Dreierkette – man weiß, dass er keine Anlaufzeit braucht“, sagt Löw. Im ersten EM-Spiel gegen Frankreich, bot er Kimmich rechts außen vor der Dreierkette auf.
„Er hat unglaublich viel gemacht in der Offensive“, lobte Löw ihn anschließend. Das kritische Publikum hingegen war nicht ganz so überzeugt. Kimmichs Ertrag in der Offensive blieb überschaubar. Der Aushilfsrechtsverteidiger schlug zwar sieben Flanken, echte Gefahr erzeugte er mit seinen Versuchen aber nicht.
Das war allerdings auch der Besetzung der Offensive geschuldet: Für diese Art des Fußballs fehlt der Nationalmannschaft der eigentlich nötige Zielspieler im Strafraum, den Kimmich beim FC Bayern mit Robert Lewandowski hat.
Kimmich zieht es intuitiv in die Mitte
Deutlich besser funktionierte Löws Idee in der Defensive. Mit mehr Kompaktheit in der letzten Linie wollte er den hoch gelobten französischen Angriff in den Griff bekommen. Eine allzu große Bedrohung ging von der gefürchteten Offensive des Weltmeisters nicht aus.
Vor dem einzigen Treffer des Spiels, dem Eigentor von Mats Hummels, hielt Kimmich allerdings zu viel Abstand zum Vorlagengeber Lucas Hernandez. Dass er als Rechtsverteidiger in die Mitte eingerückt war, lag jedoch vor allem daran, dass Innenverteidiger Antonio Rüdiger seinen Platz in der Dreierkette geräumt hatte.
Aber Kimmich zieht es intuitiv in die Mitte. „Da hat man immer das Gefühl. dass man Teil des Spiels ist“, sagt er. „Man kann jeden erreichen.“ Kimmich geht es um Einfluss, und der ist im Zentrum größer als draußen am Rand. Das Publikum sieht es wohl ganz ähnlich. Ginge es nach der Mehrheitsmeinung im Volk, müsste Kimmich gegen Portugal im defensiven Mittelfeld auflaufen.
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Joachim Löw aber hat in Aufstellungsfragen noch nie basisdemokratisch entscheiden lassen, und so deutet einiges darauf hin, dass auch gegen Portugal alles bleibt, wie es war. Der Bundestrainer kündigte zwar taktische Änderungen an, die aber hätten „mit dem System gar nichts zu tun“.
Vor sieben Jahren, mit dem Original-Lahm, war es genauso. Löw ertrug die massive Kritik an dessen Versetzung ins defensive Mittelfeld stoisch, ehe er schließlich doch noch einlenkte und Philipp Lahm in die Viererkette verschob. Lahm war damals gar nicht begeistert. Und doch akzeptierte er Löws Entscheidung ohne großes Murren, um den gemeinschaftlichen Erfolg nicht zu gefährden.
Kimmich tickt ähnlich. Das hat er vor einem Jahr gezeigt, als er beim Finalturnier der Champions League den verletzten Rechtsverteidiger Benjamin Pavard ersetzen musste. Im Finale bereitete Kimmich von dieser Position mit einer Hereingabe das Siegtor von Kingsley Coman vor.
„Solange wir die Spiele gewinnen, ist es mir eigentlich komplett egal, ob ich rechts oder in der Mitte spiele“, hat Joshua Kimmich über seine aktuelle Situation gesagt. Das Problem ist: Das Problem ist: Die Nationalmannschaft müsste bei der EM jetzt eben auch mal gewinnen.