Valerie Fritschs Roman „Zitronen“: Im Hinterhalt der Liebe

Lilly Drach ist eine merkwürdige Mutter in einem merkwürdigen Haus, das so vollgestopft ist mit „Flohmarktware, Kuriositäten, die man gefunden, und Erbstücken, denen man nicht geschafft hatte zu entkommen“, dass die Bewohner kaum Platz haben.

In der Nachbarschaft scheint sich niemand über solche Wohnverhältnisse zu wundern, aber in diesem Dorf scheint es ohnehin nicht mit rechten Dingen zuzugehen: „Das Dorf war so klein, dass man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder niemand niemanden, nicht einmal unter seinem eigenen Dach.“

Das kleine Dorf, die eigenwilligen Bewohner, die allgegenwärtige Fremdheit. Die Motive mögen an klassische Topoi der österreichischen Literatur erinnern, doch Fritsch entwickelt in ihrem neuen Roman „Zitronen“ aus der bekannten Gemengelage eine Geschichte, die in ihrer Radikalität bemerkenswert ist.

Eine dysfunktionale Familie

Mutter Drach ist vom Leben enttäuscht, hält sich für etwas Besseres, fühlt sich der verstorbenen Prinzessin Di verbunden und schaut auch deshalb immer wieder die immergleichen Video-Sequenzen der royalen Beerdigungsfeierlichkeiten. Wenn schon ungekrönt, möchte Lilly zumindest eine über alle Maßen liebende Mutter sein. Im Grunde müsste sie auch nicht viel tun, um sich die Zuneigung des Sohnes August zu sichern. Ihr Ehemann ist ein jähzorniger Grobian.

August muss ständig auf der Hut sein, um nicht eine Tracht Prügel zu kassieren, aber die Mutter schreitet nicht ein, wenn der Mann wieder zuschlägt. Schlimmer noch, sie setzt den sensiblen Sohn emotional unter Druck. Liest ihm beispielsweise vor dem Einschlafen aus aufwühlenden Märchen vor, um ihn dann zu fragen: „Wenn das Haus brennt, wen würdest du retten, wenn du nur einen retten kannst, den Vater oder mich, aber er war schon klug genug, um zu ahnen, dass in der größeren Liebe ein Hinterhalt steckte (…).“

Die physische und psychische Gewalt ist allgegenwärtig in dieser Familie, sodass es August zunächst nicht sonderlich belastet, als der Vater „in einer kühlen Nacht im Frühling“ verschwindet und nie wieder auftaucht. Was mit ihm geschehen ist, bleibt ein großes Rätsel.

Wie auch andere Entwicklungen im Hause Drach: Die Mutter scheint sich über die neue Situation zu freuen und lernt mit Otto Ziedrich einen Arzt kennen, der ein Gegenmodell zum verschwundenen Gatten darstellt. Der gutmütige Mediziner aber merkt nicht, dass er ausgenutzt wird und Lilly Drach einen perfiden Plan verfolgt.

Mit einem geklauten Rezeptblock und gefälschten Unterschriften ihres Liebhabers organisiert die Monstermama jede Menge Pillen, die sie ihrem Sohn heimlich verabreicht. Die Medikamente machen das Kind krank, was bei der Mutter bizarre Hochgefühle auslöst.

Münchhausen-Syndrom

In der Medizin wird diese Form der Kindesmisshandlung auch Münchhausen-Stellvertretersyndrom genannt, und die 1989 in Graz geborene Schriftstellerin und Fotokünstlerin Fritsch weiß den bedrückenden Stoff überzeugend zu literarisieren: „Zitronen“ ist weniger ein Themenroman als der gelungene Versuch, für den Hass, der in der Liebe steckt, eine eiskalte Sprache zu finden – und zugleich eine verstörend spannende Geschichte zu erzählen.

Der Hausdrachen Lilly rechnet nicht mit der Besorgnis ihres Bettgenossen Otto, der Mutter und Sohn auf ein Familienanwesen unter südlicher Sonne einlädt. Auf dem Weg dorthin verliert Lilly ihren Rucksack samt Pillendose. Und siehe da: Der Sohn gesundet ohne Tabletten, erfreut sich an der frischen Meeresluft, südlicher Sonne und dem Duft reifer Zitronen – was der eingebildeten Heilerin gar nicht gefällt. Sie will das Kind die Treppe hinunterstürzen, August aber kann sich nicht nur in dieser heiklen Situation rechtzeitig in Sicherheit bringen.

Der bösartige Schwindel fliegt erst auf, als Mutter und Sohn wieder daheim sind, als August erneut unter unerklärlichen Krankheitsschüben leidet. Durch einen Zufall entdeckt Otto die Pillen und gefälschten Rezepte in einer Kommode. Der entsetzte Mediziner weiß sich nicht anders zu helfen, als den Jungen umgehend aus dem Dorf in eine große Stadt zu bringen, weit entfernt von der kranken und krankmachenden Mutter.

Biografischer Hochstapler

Doch Otto verschweigt ihm den Grund für seine überhastete Aktion, macht das Kind zu einem dummen August, der in seinem eigenen Leben viele Jahre herumtölpeln wird. Mehr noch: Weil er um die doppelte Gewalterfahrung nicht weiß und die elterliche Prägung weder thematisieren noch therapieren kann, wird er selbst zum rabiaten Lügner. Vor allem aber wird er zum Erfinder mannigfaltiger Lebensläufe, zu einem biografischen Hochstapler, der selbst nicht so genau weiß, woher er eigentlich kommt.

Im zweiten Teil des Romans zeigt sich, wie genau Valerie Frisch arbeitet. Die Motive scheinen ein Eigenleben zu entwickeln. Wie von böser Zauberhand geplant, entstehen immer neue Varianten der eingeführten Probleme. August sucht die Wahrheit, über sich und seine Liebesunfähigkeit.

Die Erzählstimme, die auf unheimliche Weise personal und auktorial zugleich angelegt ist, verheimlicht dabei so gut wie nicht: In fast schon grausamer Deutlichkeit legt sie den inneren Groll des Protagonisten offen, der unter den gegebenen Verhältnissen nahezu zwangsläufig in Gewalt mündet. Kann August sich aus seinem Lügenleben befreien?

Das Buch, das als düsterer Dorf- und Familienroman begonnen hat, entwickelt sich über eine so erschütternde Liebesgeschichte zu einem biografischen Thriller mit einem Unhappy End. Der Tonfall der Prosa ist auf empathische Weise „herzlos“. Das muss in diesem Fall auch so sein, denn die Gefühle werden als Ort der Repression beschrieben.