Das große Erschrecken: Wie der Kulturbetrieb am eskalierenden Nahost-Konflikt zu zerbrechen droht
Es ist tragisch, was im Kulturbetrieb gerade passiert – und es dürfte noch schlimmer werden. Seit dem 7. Oktober wird vieles abgesagt, mal mit dem Argument, man könne die Protagonisten nicht genügend vor Aggressionen schützen, mal mit dem Argument, sie selbst repräsentierten eine gefährlich-aggressive Haltung.
Den einen misstraut man, weil sie nach den Hamas-Massakern geschwiegen, zu wenig gesagt haben, den anderen, weil sie zu viel von sich gegeben, irgendeinen offenen Brief unterschrieben, eine Instagram-Story gepostet oder einen Beitrag gelikt haben. Und kann schon Misstrauen viel zerstören, so ist es doch von den Emotionen, die gerade boomen, noch eine der harmloseren. Erst recht trifft man bei vielen auf Wut, Hass, Verbitterung. Täglich entstehen neue Feindschaften.
Große Herausforderung
Für den Kulturbetrieb ist das eine neue Situation. Die verschiedenen Krisen und Herausforderungen der letzten Jahre hatten Theater, Museen, Festivals, Literaturhäuser und viele andere Kulturinstitutionen ziemlich gut bewältigt. Sie ließen sich nicht spalten, waren jeweils klar und einheitlich auf der Seite der Schwachen, von Minderheiten und Diskriminierten.
So stellte man sich hinter die Geflüchteten und protestierte gemeinsam gegen Rassismus, akzeptierte in der Pandemie aus Rücksicht auf Alte und Anfällige die behördlichen Maßnahmen fast durchwegs. Der Ukraine steht man gegen den russischen Aggressor bei, und den Klimawandel hält man selbstverständlich für eine Katastrophe, die unglaublich viel neues Leid mit sich bringt.
Komplexität des Nahostkonflikts
Beim Nahostkonflikt ist aber auf einmal unklar, wer in der Position des Schwächeren ist. Sind die von Terroristen ermordeten Juden die Opfer, die unbedingte Solidarität verdient haben? Ist es der von mehreren Seiten bedrohte Staat Israel? Oder sind es nicht doch die von Israel eingesperrten und unterdrückten Palästinenser, denen vor allen anderen zu helfen ist?
Mit ihrem Anliegen, jeweils die Opfer zu unterstützen, sind die Institutionen des Kulturbetriebs angesichts des Nahostkonflikts in einer ausweglosen Situation.
Wolfgang Ullrich, Autor
Zwar gibt es auch differenzierte Stimmen, die Gründe zur Bejahung jeder dieser Fragen nennen, aber angesichts der vielen ganz realen Toten und des Leids der direkt vom Konflikt Betroffenen wirken sie schnell etwas akademisch. Dafür haben die jeweils aus einer parteiischen Perspektive getroffenen, meist entsprechend emotionalen und unerbittlichen Aussagen mehr Gewicht. Zwischen ihnen aber ist jegliche wechselseitige Anerkennung ausgeschlossen.
Verschärfte Konfliktlinien
Mit ihrem Anliegen, jeweils die Opfer zu unterstützen, haben sich die Institutionen des Kulturbetriebs angesichts des Nahostkonflikts also in eine geradezu ausweglose Situation gebracht. Dieser Konflikt ist nun auch ihr Konflikt, in Deutschland nochmals dadurch verschärft, dass das Schicksal der Juden hier niemandem gleichgültig sein darf, zugleich aber so viele Menschen hier leben, denen die Palästinenser und deren Lage näher sind.
Künstler oder Intellektuelle, die bisher immer für dieselben Ziele eintraten, die dieselben Petitionen unterstützten und gemeinsame Projekte machten, finden sich nun plötzlich auf entgegengesetzten Seiten wieder. Allenthalben gibt es ein großes Erschrecken über die Reaktionen und Ansichten der jeweils anderen; manche sind deshalb traurig und verstört, manche aber können ihr Entsetzen – sowohl über die Geschehnisse als auch darüber, wie andere sie wahrnehmen und kommentieren – nicht zurückhalten.
Irreversible Brüche
Dass die Brüche und Verletzungen, die daraus entstehen, reversibel sind, erscheint von Tag zu Tag weniger wahrscheinlich. Aber damit nicht genug. Zusätzlich zu den großen internen Problemen, denen die Institutionen nun ausgesetzt sind, bekommen sie Druck von außen.
Förderzusagen und finanzielle Unterstützungen werden zunehmend davon abhängig gemacht, wen sie ein- und wen sie ausladen und welchen Themen sie sich widmen. Es gibt gute Gründe und nach dem entsprechenden Bundestagsbeschluss von 2019 sogar die Verpflichtung, darauf zu achten, dass keine öffentlichen Gelder für BDS-nahe Veranstaltungen verwendet werden.
Deutungsspielraum
Zugleich ist es allerdings alles andere als eindeutig, ab wann jemand oder etwas als BDS-nah zu gelten hat, abgesehen davon, dass das eine in sich vielstimmige, je nach Region und Bereich anders motivierte Bewegung ist. Hier besteht also ziemlich viel Deutungsspielraum, was aber auch heißt, dass Misstrauen, sobald es erst einmal aufkommt, nie wieder aus der Welt zu schaffen ist. Je nach Interesse kann man für eine Beurteilung Zusammenhänge ausblenden oder beliebig erweitern, doch vor allem kann man jene guten Gründe für ganz andere, ihrerseits keineswegs gute Ziele instrumentalisieren.
Mutmaßlich ist genau das die aktuell gefährlichste Entwicklung. So überrascht schon, wer sich auf einmal alles über palästinensischen Antisemitismus empört und erkennbar daran interessiert ist, möglichst viele Akteure des hiesigen Kulturbetriebs in den Verdacht zu bringen, davon geprägt zu sein oder damit zumindest zu sympathisieren: Findet sich nicht vielleicht doch noch eine böse Unterschrift, eine problematische Äußerung, ein verräterisches Like – irgendetwas, das sich, am liebsten per Screenshot, skandalisieren lässt?
Schaut man genauer hin, stellt man fest, dass unter denen, die sich hier besonders engagieren, etliche ein Problem mit der gesamten Ausrichtung des Kulturbetriebs haben. Verhohlen oder unverhohlen stören sie sich schon länger daran, dass dieser sich so viel um Schwache und um Minderheiten kümmert, sind genervt von Frauenquoten und mehr Aufmerksamkeit für Schwarze oder Queere, haben etwas gegen die Rückgabe von Benin-Bronzen oder eine kritische Revision des Kanons.
Aber während sie bisher nur beleidigt oder rückständig erschienen, wenn sie ihren Unmut äußerten, haben sie nun ein fantastisches Mittel zur Hand, um die Kulturinstitutionen aus einer Position moralischer Hoheit anzugreifen. Letztes Jahr lieferte der Skandal um antisemitische Exponate auf der Documenta einen Vorgeschmack auf dieses neue Diskursformat.
Wille zur Verdrängung
So waren sie ein zuerst völlig berechtigter, dann im Lauf eines langen Sommers aber zunehmend auch zum Vorwand werdender Grund, um andere Themen und Debatten – über alternative Kunstbegriffe, über unterschiedliche Gewalterfahrungen, über Möglichkeiten und Grenzen von Kollektiven – gar nicht erst führen zu müssen, ja um die Anliegen des Globalen Südens komplett ignorieren zu können.
Revanchistisches Agitieren
Zeigte sich da bereits ein durchaus aggressiver Wille zur Verdrängung, so droht nun ein revanchistisches Agitieren gegen das Programm vieler Kulturinstitutionen wie auch gegen Menschen, die als zu fremd und zu anders empfunden werden, um unbehelligt hier leben zu dürfen.
Dass nun gerade der Kampf gegen Antisemitismus zu einer rassistischen und minderheitenfeindlichen Agenda genutzt wird, mit der statt des Schutzes der Schwachen das Recht des Stärkeren durchgesetzt werden soll, macht fassungslos. Denn zu diesem Kampf gibt es keine Alternative, zu den humanitären Anliegen, wie sie die Kulturinstitutionen vertreten, aber auch nicht.
Das eine gegen das andere ausspielen zu wollen, stellt also keine Option gar – so wie man umgekehrt der ihrerseits aggressiven Unterstellung nicht auf den Leim gehen darf, das einzige echte Problem seien der Rassismus und der Kolonialismus und nicht genauso der Antisemitismus.
Wird diese Unterstellung bisher meist ganz offen kommuniziert, so werden einige sie aus Angst, als BDS-nah zu gelten und deshalb sanktioniert zu werden, fortan vermutlich zu verbergen oder zu leugnen versuchen. Das aber liefert weiter Stoff für Misstrauen, und vermutlich wird man oft gar nicht klar sagen können, welche Überzeugungen jemand hat – auf welcher Grundlage also Entscheidungen über Förderungen, Einladungen, Preise getroffen werden können.
Insgesamt wird die Globalisierung des Kulturbetriebs zumindest teilweise rückgängig gemacht werden.
Wolfgang Ullrich, Autor
Auf der anderen Seite fehlt es ebenso an eindeutigen Kriterien dafür, wann sich jemand wirklich – dann aber auch jedem! – Antisemitismus entgegenstellt, wann damit hingegen nur die Abwehr von etwas ganz anderem betrieben wird. Und damit gibt es noch mehr Misstrauen, ja so viele sich nach dem 7. Oktober mit ihrem Verhalten in der einen oder anderen Weise demaskiert haben, so viele setzen nun also gerade neue Masken auf, wobei man manchmal nicht weiß, was verwerflicher ist: das, was maskiert werden soll, oder die Art des Maskierens selbst.
Gravierender Rechtsrutsch
Die Zwietracht, die im Kulturbetrieb um sich greift, ist umso folgenreicher, als sie mit einem gravierenden Rechtsrutsch koinzidiert. Wäre der Nahostkonflikt in einer anderen politischen Großwetterlage eskaliert, wären die unvereinbaren Positionierungen vielleicht noch halbwegs zu bewältigen gewesen; so hingegen nutzen die rechten Kräfte ihr Oberwasser dazu, noch hartnäckiger, noch dreister auf weitere Spaltungen hinzuwirken – bald vielleicht auch nicht mehr nur camoufliert, sondern in offener Feindschaft gegen die lange Zeit vorherrschenden Programmlinien des Großteils der Kulturinstitutionen.
Schon jetzt ist absehbar, dass vieles nicht mehr stattfinden kann. Insgesamt wird die Globalisierung des Kulturbetriebs zumindest teilweise rückgängig gemacht werden, weil man mürbe werden wird, dass jedes Mal wieder eine ähnliche Debatte über noch so unklare Verstrickungen einzelner Akteure in die BDS-Bewegung droht. Im Zweifel wird man sich dann lieber dafür entscheiden, bereits gut bekannte Leute aus dem näheren Umfeld zu engagieren – wird weniger riskieren, weniger ausprobieren. Bisher hier ungehörte Stimmen werden weiter ungehört bleiben.
Weniger Angriffsflächen
Vielleicht wird man sogar insgesamt unpolitischere Programme machen, um nicht so viele Angriffsflächen zu bieten. Doch wenn die Gegner der auf Inklusion und Minderheitenrechte zielenden Projekte erst einmal merken, dass ihre Diskreditierungskampagnen Erfolge zeitigen, werden sie nur noch lauter agitieren und eine völlige Entpolitisierung, eine Rückkehr zur schönen und hehren Kunst fordern. Damit allerdings würden die Kulturinstitutionen Teile ihres Publikums verlieren, dürften doch viele ein Gros an unverfänglich-unpolitischen Veranstaltungen eskapistisch und langweilig, vor allem aber ziemlich irrelevant finden.
Schwindende Besucherzahlen, fortwährende Rechtfertigungsdebatten, Widerstand von eventuell neuen politischen Mehrheiten, Misstrauen untereinander – das alles zusammen aber führt zwangsläufig auch zu Mittelkürzungen. Jeder neue Skandal wird zum willkommenen Anlass, Gelder zu streichen, jeder institutionsinterne Konflikt taugt zum Argument dafür, Etats nicht zu bewilligen, jedes Programm kann als zu politisch kritisiert und deshalb mit finanziellen Sanktionen bestraft werden. Dazu kommen Einnahmeverluste durch weniger Publikumsresonanz.
Wurde vor einem guten Jahrzehnt noch ein Kulturinfarkt, also eine ungesunde Verfettung eines übersubventionierten Kulturbetriebs diagnostiziert, so könnte schon bald das Gegenteil zu beobachten sein: Reduzierte Budgets bringen zahlreiche Institutionen an die Existenzgrenze, und neben internen Problemen haben sie eine verschärfte Konkurrenz untereinander auszuhalten.
Wird das Geld sehr knapp, können sie kaum noch solidarisch miteinander sein. Vieles, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgebaut wurde, könnte also schon bald obsolet sein; ein in sich uneiniger, zusammengekürzter Kulturbetrieb ist dann nur noch ein Schatten seiner selbst.